Die Anklage lautet auf Vergewaltigung und Mord; mit dem Urteil ist im März 2017 zu rechnen. Das Opfer, so die Anklageschrift, wurde über eine Stunde lang sexuell traktiert und misshandelt. Die Studentin starb an schweren Kopfverletzungen. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerstört.
Bei diesem Verbrechen handelt es sich nicht um das Verbrechen von Freiburg, über das in ganz Deutschland heftig diskutiert wird. Dort hat, so die Ermittlungen, ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling eine Studentin vergewaltigt und ermordet; dieser mutmaßliche Täter wohnte bei einer Pflegefamilie. Der eingangs geschilderte Fall ist ein ganz anderer; er ereignete sich in Dessau. Dort hat, so die Anklage, ein junges Paar eine chinesische Studentin in eine Wohnung gelockt, um dort an ihr sexuelle Gelüste auszulassen.
Über diesen Sexualmord von Dessau wurde im Regionalfernsehen berichtet; Anlass für bundesweite Debatten in Talkshows war er nicht, Antrieb für Gesetzesverschärfungen auch nicht. Anders als der Freiburger Fall war er nicht Gegenstand von Reden auf dem CDU-Parteitag. Anlass für Spekulationen, ob bestimmte Gruppen "besonders kriminell" sind, war der Fall in Dessau auch nicht.
TV-Talk über "Angst vor Flüchtlingen":Maischberger: Ein Einzelfall ist ein Einzelfall ... oder?
Erst sind sich (fast) alle einig, dann haben alle unterschiedliche Fakten zur Hand. Die Sendung zum Mord in Freiburg zeigt, dass es in der Debatte um Flüchtlinge und Kriminalität dringend belastbare Zahlen braucht.
Hätte die Öffentlichkeit den Dessauer Fall nach dem Freiburger Muster behandelt, hätte man die Gewalttaten gegen Flüchtlinge in Ostdeutschland mit dem Sexualmord in Verbindung bringen können und groteske Schlüsse über irgendeine Gruppe gezogen, zu der man das Paar rechnet. Man hätte mit Häme darauf hingewiesen, dass die Eltern des Angeklagten Polizisten sind. Das alles ist glücklicherweise im Fall Dessau nicht passiert. Im Fall Freiburg aber schon: Der Vater des Opfers, ein Christ, der sich in der Flüchtlingshilfe engagiert, wie es seine ermordete Tochter auch getan hat, musste sich im Internet sagen lassen, letztendlich Mitschuld an diesem Mord zu haben.
Es bildet sich ein Klima, das nicht nur den Täter, sondern "die Flüchtlingspolitik" verurteilt. Hätte man, so heißt es in Blogs, diesen jungen Flüchtling, ja die Flüchtlinge überhaupt, nicht ins Land gelassen - dann wäre der Mord nicht passiert. Diese Gedankenkette ist stupide logisch, borniert richtig und bösartig. Sie ist so logisch wie der Satz: Wenn der Mörder nicht geboren worden wäre, wäre er nicht zum Mörder geworden. So argumentiert Lebens- und Menschenfeindlichkeit. Sie fordert letztlich das Ende der Humanität: Hätte man Hussein K. nicht ins Land gelassen, würde Maria L. noch leben. Es ist einfach: Man zeigt auf eine Straftat in Deutschland und schert sich nicht um die Jahrhundertverbrechen von Aleppo.
Man missbraucht den Tod von Maria L. Andere aktuelle Forderungen sind nur graduell besser. Der CDU-Parteitag hat die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft für junge Migranten beschlossen. Die Junge Union, von ihr kam dieser Antrag, wollte so auf grassierende Ängste vor Überfremdung reagieren. Der Mord in Freiburg wird ungerührt hineingerührt in die Debatten über die Integrations-, die Ausländer- und die Flüchtlingspolitik, als handele es sich bei dieser Straftat um eine Zutat zu einem politischen Gericht.
Der Mord in Freiburg ist ein abscheuliches Verbrechen. Es wäre nicht weniger schlimm, wenn es ein Deutscher begangen hätte. Aber weil es sich um einen Flüchtling handelt, wird er angeblich zum Teil und Stellvertreter einer Masse. Der komplexe individuelle Mensch mit seiner Lebensgeschichte und Störung wird reduziert auf drei Buchstaben: umF, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Drei Buchstaben sind aber keine Erklärung, warum ein junger Mann zum Verbrecher wird. Es ist dies ein Beispiel für die Stigmatisierung der Flüchtlinge in Deutschland. Freiburg eignet sich zur Aggressionsabfuhr in einer Zeit der Grundverunsicherung. Diese Grundverunsicherung zeigt sich in der verstockten Sicherheit der Rechtspopulisten, dass Aufnahme von Flüchtlingen kategorisch falsch ist. Sie zeigt sich auch darin, dass viele der Menschen, die grundsätzlich helfen wollen oder wollten, sich in der Defensive fühlen.
Das Bewusstsein, moralisch gehandelt zu haben, als man vor einem Jahr die Flüchtlinge aufgenommen hat, führt bisweilen zur Erwartung, diese müssten moralisch integer sein. Wenn sie es nicht sind, wenn sie sogar Verbrechen begehen, kann die Enttäuschung darüber zu Aggression gegen die ganze Gruppe führen. Flüchtlinge sind aber keine besseren Menschen, sie sind Menschen, bei denen unter Hunderttausenden eine bestimmte Zahl ist, die straffällig wird. Sie haben ihre Schicksale, das macht sie aus; einige werden zu Straftätern.
Vor einem guten Jahr hat ein Rechtsextremist die heutige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker schwer verletzt. Bei den Ermittlungen zeigte sich, dass der Täter als Kind beinah verhungert wäre - und seine jüngeren Geschwister mit Reis gefüttert und ihnen und sich das Leben gerettet hat. Das entschuldigt nichts, ist aber für Beurteilung und Urteil wichtig. Ist so einer die "Bestie", zu der man Verbrecher oft machen will? Vielleicht macht man es deswegen, weil einen das eigene Ressentiment erschreckt und man ein Monster braucht, das die Aggression rechtfertigt.
Welchen Wert und Gehalt haben Zivilität und Humanität noch?
Wer die Flüchtlingsaufnahme "monströs" nennt, "die Flüchtlinge" so zum Monster macht und den Freiburger Täter zum Prototyp, muss sich mit den Schicksalen und der Not der Flüchtlinge nicht mehr befassen. Steckt das hinter der pauschal-exzessiven Diskussion über das Freiburger Verbrechen? Gibt es einen so großen Überdruss an den Einzelschicksalen, dass man sich nur noch pauschal mit Flüchtlingen befassen will - um sie dann auch pauschal abschieben zu können?
Die Art und Weise, wie der Fall Freiburg öffentlich verhandelt wird, zeigt an, welchen Wert und Gehalt Zivilität und Humanität nach einem Jahr wüster Flüchtlingsdebatte noch haben: Es gibt ungeheuer viel Hetze und Häme, ungeheuer viel Verunsicherung; aber auch noch immer sehr viel Bereitschaft zur Differenzierung und Hilfe. Beim bevorstehenden Wahlkampf geht es nicht nur darum, welche Partei am Ende die Nase wie weit vorne hat. Es geht um viel mehr: wie stabil das Fundament noch ist, auf dem diese Gesellschaft steht.