Bootsflüchtlinge:Jede Woche sterben elf Kinder auf dem Mittelmeer

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Flüchtlinge westlich von Tripolis an Bord der "Sea-Watch 3". (Archivbild). Mindestens 289 Kinder und Jugendliche 2023 bislang im Mittelmeer ertrunken oder verschwunden. (Foto: Johannes Moths/Imago)

Obwohl die Seeroute nach Europa so gefährlich ist, machen sich zweimal mehr junge Menschen auf den Weg als noch 2022. Viele sind ohne Eltern und Verwandte unterwegs, berichtet Unicef.

Von Marc Beise, Rom

Erstmals haben Experten des UN-Kinderhilfswerks Unicef errechnet, wie viele Kinder bei dem Versuch sterben oder vermisst werden, das zentrale Mittelmeer von Nordafrika nach Europa zu überqueren. Dabei kommen sie allein für 2023 auf bisher mindestens 289 Kinder und Jugendliche; umgerechnet elf junge Menschen in der Woche.

Dies geht aus einem Bericht hervor, den Unicef am Freitag veröffentlicht hat und der sich auf Erhebungen des Projekts "Missing Migrants" der Internationalen Organisation für Migration (IOM) stützt. Dabei werden nicht nur die aufgefundenen Leichen gezählt, sondern auch zahlreiche andere Fakten berücksichtigt. Auf dieser Basis schätzt Unicef, dass seit 2018 etwa 1500 Kinder gestorben sind oder als vermisst gelten. Das entspricht jedem Fünften der insgesamt 8274 Menschen, die auf dieser Route ums Leben kamen oder vermisst werden.

Die Kinder sind viel größeren Risiken ausgesetzt

Laut UN-Zahlen erreichten zwischen 1. Januar und 9. Juli 2023 90 605 geflüchtete und migrierte Menschen über das Mittelmeer Europa. Die meisten von ihnen (69 599 oder 77 Prozent) nahmen dabei die zentrale und besonders riskante Mittelmeerroute und landeten in Italien an; dort sind die massiv gestiegenen Zahlen ein großes Thema, die Regierung fühlt sich von der EU im Stich gelassen.

Unter den Ankömmlingen waren laut Unicef rund 11 600 Kinder (16,7 Prozent). Trotz der damit verbundenen erheblichen Risiken für Kinder entspricht dies einer Verdopplung im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die meisten machen sich von Libyen und Tunesien auf den Weg, nachdem sie bereits gefährliche Reisen aus Ländern in ganz Afrika und des Nahen Ostens hinter sich haben.

Im ersten Quartal 2023 wurden 3300 Kinder als unbegleitet oder von ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten getrennt registriert. Das entspricht 71 Prozent aller Kinder, die auf diesem Weg nach Europa kommen. Kinder, die allein unterwegs sind, sind einem größeren Risiko ausgesetzt, Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch zu werden, erläutert Unicef. Insbesondere für Mädchen ist die Wahrscheinlichkeit größer, vor, während oder nach der Flucht Gewalt zu erfahren.

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen forderte Unicef-Exekutivdirektorin Catherine Russell "größere Anstrengungen, um den Ursachen entgegenzuwirken, die dazu führen, dass Kinder ihr Leben riskieren".

Besonders Bedürftigen könnte man die Route über das Mittelmeer ersparen

Die Perspektiven namentlich für Kinder und Jugendliche in den Herkunfts- und Transitländern müssten dringend verbessert werden, Konflikte und Klimarisiken vermindert und der Zugang zu sozialer Absicherung sowie Lern- und Verdienstmöglichkeiten ausgebaut werden. Wer schon auf der Flucht sei, brauche sichere und reguläre Wege der Migration. Die Koordinierung von Such- und Rettungseinsätzen müsse verstärkt werden. Mit Blick auf die Kinder gehe es um sichere Methoden der Familienzusammenführung.

Darum bemüht sich beispielsweise die dem Vatikan nahestehende Laienorganisation Sant' Egidio in Rom, die mit Hilfe von Kirchen verschiedener Konfessionalität und Sozialeinrichtungen seit 2016 immer wieder sogenannte "humanitäre Korridore" öffnet. Dabei werden bereits in den Lagern jenseits des Mittelmeers besonders bedürftige Menschen identifiziert, häufig alleinreisende Kinder, die in Europa bereits Familie haben, und alleinerziehende Mütter mit ihrem Nachwuchs.

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Diese erhalten dann in Zusammenarbeit mit einigen Staaten wie zum Beispiel Italien Visen und werden auf Linienflüge legal nach Rom geleitet. Von dort werden sie in Gastfamilien untergebracht, ausgebildet und integriert. Auf diese Art und Weise gelingt es, die gefährliche Route über das Mittelmeer zu überspringen.

Seit Februar 2016 sind auf diesem Weg mehr als 6000 Menschen nach Europa geleitet worden, vor allem Syrer, die vor dem Krieg geflohen sind, und Menschen aus der Region vom Horn Afrikas. Sant' Egidio wirbt seit langem - auch in Deutschland bisher vergeblich - darum, dieses Programm massiv auszuweiten, um so Dramen auf hoher See vermeiden zu können.

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