Ukraine:Warum Selenskij Merkel lieber erst am Dienstag empfangen hätte

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Wenn Kanzlerin Merkel die Ukraine erst zwei Tage später besucht hätte, wäre das Präsident Selenskij lieber gewesen. (Foto: AP)

Die Ukrainer schätzen es durchaus, dass die Kanzlerin nach Kiew kommt. Aber sie haben mehr erwartet - unter anderem einen späteren Termin.

Von Florian Hassel, Warschau

Der Präsident machte kein Geheimnis daraus, wann die Ukraine Bundeskanzlerin Angela Merkel gern in Kiew gesehen hätte: "Wir haben sie am 24. August erwartet", sagte Wolodimir Selenskij in einem Interview mit westlichen Medien - und nicht schon an diesem Sonntag.

Denn am Dienstag begeht die Ukraine mit einer großen Parade in Kiew den 30. Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung von der Sowjetunion. Ein wichtiger Tag für die Ukraine: erst recht in einer Zeit, in der Russlands Präsident Wladimir Putin immer wieder seine imperialen Ambitionen bekräftigt. Erst am 12. Juli tat er das in einem Essay mit dem programmatischen Titel: "Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern". In den Augen zahlreicher Ukrainer eine neue Provokation.

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Putin hatte im Frühjahr an der Grenze zur Ukraine ein Heer aufmarschieren lassen. Viele befürchteten einen weiteren Krieg. Nach angespannten Wochen verkündete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am 22. April den Rückzug. Doch laut Präsident Selenskij stehen immer noch 100 000 russische Soldaten im Grenzgebiet. Und der OSZE zufolge geht der Stellungskrieg in der Ostukraine trotz eines im Sommer 2020 vereinbarten Waffenstillstands auf kleiner Flamme weiter.

Die Kanzlerin hatte Selenskij im Juli in Berlin aufgefordert, er solle die Steinmeier-Formel in ukrainisches Recht überführen - ein Vorschlag des heutigen Bundespräsidenten aus seiner Zeit als Außenminister. Danach soll Kiew der von Moskau abhängigen "Volksrepublik Donezk" (DNR) und der "Volksrepublik Lugansk" (LNR) einen Status weitgehender Autonomie nach eigenen Wahlen zugestehen. Die Ukrainer indes lehnen die Formel heute ab - erst recht, weil Russland längst eine Politik schleichender Annexion betreibt.

Zuerst befahl Putin 2017, von der DNR und der LNR ausgegebene Pässe anzuerkennen. Am 24. April 2019 ließ Russlands Präsident einen Erlass zur Ausgabe russischer Pässe an DNR- und LNR-Bewohner folgen. Bis Anfang Mai hatte Russland dem Innenministerium zufolge dort bereits 527 000 Pässe ausgegeben. Bis Ende 2021 könne die Millionenmarke erreicht werden. Das sehen die Ukrainer als massiven Angriff auf die eigene Staatlichkeit.

Der Kleinkrieg geht weiter: Trotz offiziellen Waffenstillstands kommt es in der Ostukraine immer wieder zu Gefechten - im Bild ein ukrainischer Soldat in einem Schützengraben. (Foto: Anatolii Stepanov/AFP)

Und das ist auch der Hintergrund, warum sie die Kanzlerin gern, wenn schon nicht bei einem Besuch des Donbass, am Dienstag als hochrangigen Gast auf dem Feiertag zur Unabhängigkeit gesehen hätten. Dass die Kanzlerin diesen Termin meidet, werteten ukrainische Medien als Merkels Bemühen, Putin nicht demonstrativ zu verprellen.

Andere ukrainische Wünsche trug Präsident Selenskij schon bei seinem Besuch in Berlin am 12. Juli erfolglos vor: allen voran einen Baustopp der Gaspipeline Nord Stream 2 in letzter Minute und deutsche Waffen für die Ukraine. Mit beiden Anliegen scheiterte Selenskij. Stattdessen einigten sich Deutschland und die USA in einer Erklärung vom 21. Juli, die Ukraine solle als Gastransitland erhalten bleiben und Investitionen von einer Milliarde Euro in die Entwicklung erneuerbarer Energien bekommen.

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Für Kiew wäre dies angesichts wegfallender Milliardeneinnahmen aus dem Gastransfer (bis 2024 bringt Russlands Gastransport durch die Ukraine dem Land rund sieben Milliarden Dollar) ein Tropfen auf den heißen Stein. Selenskij bezweifelt zudem, dass die Milliarde für die erneuerbaren Energien tatsächlich kommt. Stattdessen hoffte er darauf, dass die Kanzlerin nach ihrem Gespräch mit dem russischen Präsidenten mit einem konkreten "Resultat" nach Kiew komme. Und selbst wenn Russland als Ergebnis der Vermittlung Merkels der Ukraine etwa weitere Gaslieferungen für zehn oder gar 15 Jahre anbiete: "Wer garantiert, dass es auch so kommt?", fragt der Präsident.

Gleichwohl erkannten ukrainische Analysten es durchaus als eine Geste an, dass Merkel überhaupt nach Kiew kam. "Schon die Tatsache des Besuchs ist sehr wichtig", kommentierte etwa der Ex-Diplomat und langjährige Präsidentenberater Konstantin Elisejew. "Es ist gut, dass Merkel dafür Zeit und Gelegenheit gefunden hat - im Unterschied zu Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dem 'guten Freund Selenskijs'". Dessen Besuch in Kiew sei in den letzten zwei Jahren schon mehrmals angekündigt worden, ohne dass Macron je tatsächlich gekommen sei.

Aus Selenskijs Herzenswunsch - einem weiteren Treffen im Normandie-Format, also mit Putin, Merkel und Macron in Berlin, und dies bis zum Ende der Amtszeit der Kanzlerin - wird offenbar nichts. Stattdessen wird Selenskij am 31. August bei seinem ersten Treffen mit Joe Biden in Washington versuchen, den US-Präsidenten zu mehr Engagement in der Ostukraine und zu mehr Widerstand gegen Putin zu bewegen; zu weiteren Lieferungen von Kriegsgerät und womöglich zu billigen Krediten oder Zuschüssen.

Die Ukraine ist finanziell klamm und muss hohe Kredite zurückzahlen. Das fällt ihr umso schwerer, als der Internationale Währungsfonds wegen stockender Reformen ein Milliardenkredit-Programm auf Eis gelegt hat. US-Präsident Biden, der die Ukraine aus seiner Zeit als Vizepräsident unter Barack Obama ausgezeichnet kennt, verlangt zudem mehr: endlich ein effektives Vorgehen gegen die alles durchdringende Korruption in der Ukraine.

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