Massenproteste:Die Wut treibt Zehntausende Marokkaner auf die Straßen

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Demonstranten zeigen die Flagge der Berber/Amazigh-Organisation CMA und ein Porträt von Mouhcine Fikri. Der Fischhändler wurde am Freitag in einem Müllwagen zerquetscht. (Foto: Reuters)
  • Bisher feierte sich Marokko als Hort der Stabilität. Unter der Regierung von Mohammad VI. blieb es auch im Arabischen Frühling weitgehend ruhig.
  • Seit Freitag ist das anders. Der gewaltsame Tod eines Fischhändlers treibt viele Menschen auf die Straßen.
  • Der König reagierte rasch, um die Lage zu beruhigen. Doch es sind weitere Proteste angekündigt.

Von Moritz Baumstieger

Mouhcine Fikri wurde nur 31 Jahre alt. Der Marokkaner starb am vergangenen Freitag in der Hafenstadt Al-Hoceïma auf grausame Weise: Fikri, der sich und seine Familie als Fischhändler durchzubringen versuchte, wurde von der Presse eines Müllwagens zerquetscht. Ein Foto zeigt, wie nur noch sein lebloser linker Arm und Fikris Kopf mit der rasierten Glatze aus der hinteren Öffnung des Müllautos ragen, in dem er umkam. Der anonyme Fotograf teilte das Bild im Internet, es verbreitete sich rasend. Seither ist das Land in Aufruhr. Ein Land, das von den Zerwürfnissen in der arabischen Welt weitgehend verschont geblieben war.

Noch am Freitag protestierten die ersten wütenden Bürger in Fikris Heimatstadt, seine Beerdigung geriet zur Großkundgebung. Bald demonstrierte die gesamte Region des Rif, eine von Berbern bewohnte und bitterarme Berggegend im Norden des Landes. Am Wochenende dann breitete sich der Aufruhr über das gesamte Land aus - in mehr als 20 Städten kam es zu Massenprotesten, selbst in der sonst eher trägen Königsstadt Rabat demonstrierten Zehntausende vor dem Parlament. Die Kundgebungen blieben friedlich, doch was das Volks auf den Demonstrationen rief, war deutlich, "Mit einem Wort: der Staat ist korrupt!", zählte noch zu den zurückhaltenderen Parolen - und es sieht nicht so aus, als ob er Protest bald abebbt.

Der Auslöser der Proteste in Marokko erinnert an jene Tage im Jahr 2011, als der Arabische Frühling in Tunesien seinen Anfang nahm. Damals verbrannte sich der 27-jährige Mohammed Bouazizi selbst, um ein Zeichen gegen die Willkür der Behörden zu setzen. Die Polizei hatte ihn über Monate hinweg schikaniert und immer wieder das Obst beschlagnahmt, das der arbeitslose Bouazizi ohne Lizenz auf der Straße zu verkaufen versuchte. Seine Selbstverbrennung war der Funke, der den Flächenbrand im Nahen Osten auslöste.

Wurde der Fischhändler auf Befehl eines Polizisten zerquetscht?

Im Gegensatz zu Bouazizis Tat ist der Tod von Mouhcine Fikri kein als politischer Weckruf gedachter Suizid. Dennoch wohnt ihm ein enormes Mobilisierungspotenzial inne, weil er klar auf drei große Missstände im Land aufmerksam macht: Armut, Behördenwillkür und Polizeigewalt. Fikri war mit drei Freunden in das Müllauto gesprungen, um eine größere Menge Schwertfisch zu retten, den die Polizei konfisziert hatte - offiziell nur aus dem Grund, weil der Fisch gerade einer Schonzeit unterliegt und nicht verkauft werden darf; wahrscheinlicher aber ist, dass die Männer den Beamten kein Schmiergeld zahlen wollten. Als Fikri und die anderen nach ihrer Ware wühlten, setzte sich die Presse des Müllwagens aus noch ungeklärten Umständen in Bewegung. Den drei anderen gelang es rechtzeitig herauszuspringen, Fikri nicht. Augenzeugen berichten, die Müllmänner hätten Fikri und die anderen erschrecken und in die Flucht schlagen wollen. Andere wollen das Kommando eines Polizisten gehört haben, bevor die Presse ansprang und sprechen deshalb von Mord. Das Schlagwort, mit dem im Internet Nachrichten zu Fikris Tod und den Protesten versehen werden, lautete dementsprechend "Zerquetsche ihn".

Marokkos König Mohammed VI. erwischen die Proteste in einem sehr ungünstigen Moment. Eigentlich war er froh, auf einer Auslandsreise in Sansibar der vorsichtigen Kritik zu entgehen, die sich in seiner Heimat gegen ihn richtete. Der vom Volk "M6" genannte König hatte angekündigt, die Anwaltskosten eines Schnulzensängers zu übernehmen, dem in Paris Vergewaltigung vorgeworfen wird. Zuhause kam das nicht gut an. Und nach seiner Rückkehr wollte M6 sein Königreich der globalen Öffentlichkeit als Stabilitätsanker in Nordafrika und als Hort des Fortschritts präsentieren: Am kommenden Wochenende empfängt der König in der Märchenstadt Marrakesch Delegationen aus der ganzen Welt zur UN-Klimakonferenz. Zur medialen Begleitung des Großereignisses hatten die Organisatoren eigentlich an Aufnahmen der gigantischen marokkanischen Solarkraftwerke gedacht oder an welche aus dem folkloristischen Rahmenprogramm - und nicht an Bilder von Massenprotesten.

Der Opposition dagegen ist bewusst, dass die internationale Aufmerksamkeit durch den Klimagipfel ihrem Anliegen einen Schub verleihen könnte. "Die Sicherheitskräfte halten sich bisher zurück, sie haben wahnsinnige Angst, dass die Ereignisse außer Kontrolle geraten könnten", sagte ein Aktivist der Süddeutschen Zeitung. Er steht dem Bündnis "20. Februar" nahe, das 2011 versuchte, den Arabischen Frühling auch nach Marokko zu tragen. Lange war es ruhig um die Bewegung, "jetzt überlegen sich die Führer, wieder aktiv zu werden", sagt er.

König Mohammed reagierte schnell: Er schickte Innenminister Mohammad Hassan zu Fikris Familie, um zu kondolieren. Die sagte daraufhin, sie wollte nicht, dass der Tod ihres Sohnes das ganze Land ins Unglück stürze. Hassan kündigte eine "minutiöse Aufklärung" des Falles an, am Montag wurden bereits elf Männer verhaftet und wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.

Schon beim Arabischen Frühling 2011 hatte Mohammed besonnen gehandelt: Bei den Demonstrationen damals gab er die Anweisung, Eskalationen zu vermeiden - im Gegensatz zum Verhalten der Sicherheitskräfte in Tunesien oder Ägypten, die durch ihre Angriffe die Bürger erst dazu brachten, nicht nur Reformen, sondern den Sturz der Regimes zu fordern. Zugleich ließ der König eine neue Verfassung ausarbeiten, die dem Parlament und dem Premier etwas mehr Kompetenzen gab, die faktische Macht jedoch bei ihm beließ.

Als "dritten Weg" wurde diese Politik gepriesen. Anfang Oktober wählte Marokko sein zweites Parlament nach der Verfassungsreform, der König regiert einigermaßen harmonisch mit den gemäßigten Islamisten. Die Wahlbeteiligung allerdings lag bei gerade mal 43 Prozent. "Die Leute, die den Urnen fern geblieben sind, demonstrieren jetzt", sagt der Aktivist, "an die Show-Demokratie des Königs glauben sie nicht". Bisher kritisieren die meisten jedoch nur den "Makhzen" genannten und als korrupt verschrienen Hof, nicht den Monarchen selbst. Ob sich das nun ändert, könnte sich am Wochenende zeigen. In vielen Städten sind Demonstrationen angekündigt.

© SZ vom 03.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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