Umsturz in Libyen:Rebellen fordern Auslieferung der Gaddafi-Familie

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Die Frau und drei Kinder des ehemaligen libyschen Machthabers Gaddafi haben ihr Land verlassen, Algerien hat sie aufgenommen. Die Rebellen zeigen sich deshalb empört, werfen dem Nachbarland einen "Akt der Aggression" vor - und fordern die Auslieferung der Familie. Über den Aufenthaltsort des Diktators gibt es neue Spekulationen.

Die Ehefrau sowie drei Kinder des langjährigen libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi sind nach Angaben des algerischen Außenministeriums nach Algerien ausgereist. Wie das Ministerium in der Hauptstadt Algier über die Nachrichtenagentur APS mitteilte, überquerten Gaddafis Ehefrau Safia, die hochschwangere Tochter Aischa sowie die Söhne Hannibal und Mohamed die algerisch-libysche Grenze.

Gaddafis Ehefrau, Safia Farkash, auf einem Archivbild von 2004: Sie soll nach Algerien geflohen sein. (Foto: dpa)

"Diese Information wurde dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, dem Präsidenten des Sicherheitsrates und Mahmud Dschibril, dem Präsidenten des Exekutivkomitees des Nationalen Übergangsrates, übermittelt", erklärte das Außenministerium. Über den genauen Aufenthaltsort der Gaddafis in Algerien machte das Ministerium keine Angaben.

Auch die italienische Nachrichtenagentur Ansa berichtete von der Flucht der Familienangehörigen nach Algerien. Sie berief sich auf libysche Diplomaten.

Die libysche Übergangsregierung kritisierte die Aufnahme von Familienmitgliedern Gaddafis in Algerien als "Akt der Aggression gegen das libysche Volk und seine Hoffnungen". Libyen verlangt ihre Auslieferung, sagte Informationsminister Mohammed Schammam am Montagabend. "Wir werden alle rechtlichen Mittel ausschöpfen, um diese Kriminellen zurückzubekommen und sie vor Gericht zu stellen." Zugleich warnte Schammam laut einem Bericht des arabischen Nachrichtensenders al-Dschasira davor, Gaddafi selbst Unterschlupf zu gewähren. Jeder, der dies versuche, sei ein "Feind des libyschen Volkes".

Der ehemalige Machthaber Gaddafi selbst soll nach wie vor in Libyen sein. So geht die US-Regierung davon aus, dass sich Gaddafi noch immer in seiner Heimat aufhält. Es gebe keine Hinweise darauf, dass Gaddafi Libyen verlassen habe, erklärte das Weiße Haus. Sprecher Jay Carney sagte, sollte Washington den Aufenthalt des langjährigen Machthabers erfahren, werde die Regierung diese Information weitergeben.

Die Nachrichtenagentur Ansa berichtete, Gaddafi halte sich rund einhundert Kilometer südlich der libyschen Hauptstadt Tripolis in dem Ort Bani Walid auf. Einer seiner Söhne, Al-Saadi, soll bei ihm sein. Ein weiterer Sohn, Khamis, sei auf dem Weg nach Bani Walid getötet worden. Diese Information deckt sich mit Angaben der Rebellen, die am Montag ebenfalls den Tod Khamis' bekanntgaben. Allerdings wurde schon einige Male der Tod des jüngsten Gaddafi-Sohnes verkündet. Khamis al-Gaddafi soll zuletzt eine nach ihm benannte Armeebrigade geführt haben, die mit Massenmorden in Verbindung gebracht wird.

Die letzte Bastion

Der Rebellenvormarsch auf die Geburtsstadt Gaddafis kommt unterdessen nur langsam voran. Für die Operation in der Küstenstadt Sirte fehlten erfahrene Kämpfer, berichtete eine Korrespondentin des Nachrichtensenders al-Dschasira. Die Nato beschoss nach eigenen Angaben zuletzt Radarstationen sowie Abschussbasen für Boden-Luft-Raketen in der Umgebung von Sirte.

Die Übergangsregierung in Tripolis verhandelte am Montag weiter mit Stammesführern in Sirte über eine friedliche Übergabe der Stadt. Nach Einschätzung der militärischen Führung könnte es noch zehn Tage dauern, bis die Rebelleneinheiten Sirte erreicht haben. Der Vorsitzende des libyschen Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, rief die Nato zur Fortsetzung des Kampfes gegen Gaddafi auf. Gaddafi sei "immer noch in der Lage, etwas Grauenvolles anzurichten", sagte Dschalil in Doha bei einem Treffen mit Vertretern der Nato-Staaten. "Wenn die Nato Libyen nicht unterstützt hätte, wäre es zum größten Massaker in der modernen Menschheitsgeschichte gekommen."

Ein Nato-Vertreter sagte, der Einsatz des Bündnisses sei noch nicht zu Ende, schließe aber keine Bodentruppen in Libyen ein. "Die Anwesenheit solcher Truppen hängt von der Entscheidung des Nationalen Übergangsrates ab, der bestimmt, was in der nächsten Phase geschieht", sagte der Kommandeur der Nato-Einsatzzentrale in Neapel, Admiral Samuel J. Locklear, der Nachrichtenagentur dpa.

Unterdessen bleibt die Versorgungslage in der Millionenmetropole Tripolis kritisch. Die Lebensmittelgeschäfte hätten am Montag wieder geöffnet, die Regale seien aber meist leer, berichtete eine Al-Dschasira-Reporterin. Zudem gebe es kaum Wasser, Strom nur zeitweise. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef kämpfen humanitäre Organisationen in Tripolis vor allem mit logistischen Problemen. Zwar kämen Medikamente oder Wasser in der libyschen Hauptstadt an, sagte Sprecher Rudi Tarneden der Nachrichtenagentur dpa. Bei der Verteilung werde aber die Hilfe von Behörden oder örtlichen Organisationen benötigt - und die sei schwer zu organisieren.

Am Montag eröffnete die EU in Tripolis ein Büro für humanitäre Hilfe. Trotz der schlechten Versorgungslage kehren bereits viele Libyer, die nach Tunesien geflohen waren, in ihre Heimat zurück. Anders als in der vergangenen Woche, als täglich Hunderte Familien über den Grenzübergang Wassan nach Tunesien gefahren waren, bildeten sich nun Warteschlangen in die andere Richtung, berichtete eine dpa-Reporterin. Einen Tag nach der Entdeckung von bis zu 150 verkohlten Leichen in einem Lagerhaus in Tripolis, bei denen es sich um Opfer der Gaddafi-Truppen handeln soll, appellierte ein Sprecher der Übergangsregierung an die eigenen Anhänger, keine Rache zu nehmen. Gleichzeitig rief er alle Einwohner der Stadt dazu auf, sich am Wiederaufbau zu beteiligen.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erhob schwere Vorwürfe gegen Gaddafi-Getreue. Es gebe Beweise für willkürliche Hinrichtungen von Häftlingen, als die Rebellen in die Hauptstadt Tripolis einrückten. Selbst medizinisches Personal sei getötet worden. Auch in Krankenhäusern waren zahlreiche Leichen entdeckt worden.

© sueddeutsche.de/AFP/dpa/dapd/beu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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