Libanon:Der Schock dauert an

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Vernarbte Stadt: Im Hafen von Beirut explodierten am 4. August 2020 gewaltige Mengen Ammoniumnitrat. (Foto: -/AFP)

Vor sechs Monaten zerstörte eine Explosion Teile von Beirut. Viele Menschen leiden bis heute unter Traumata und wirtschaftlichen Schäden.

Von Moritz Baumstieger, München

Dass dieser 4. Februar ein von dunklen Gedanken bestimmter Tag für viele Libanesen werden würde, war vorauszusehen: Sechs Monate zuvor war über dem Beiruter Hafen erst der gewaltige Pilz einer Explosion in den Himmel geschossen, die anschließende Druckwelle zerstörte weite Teile der Hauptstadt - selbst Kilometer weiter fehlten Häusern Fassaden. Die Schäden sind bis heute immens, der Wiederaufbau geht bestenfalls stockend voran.

Und selbst wenn die meisten physischen Verletzungen nach einem halben Jahr ausgeheilt sein dürften, tragen viele Beiruter bis heute Traumata mit sich. Viele berichten von einer ständigen Unsicherheit, die sie umgebe: Wenn über Jahre hochexplosives Material mitten in der Hauptstadt gelagert werden kann - welche weiteren Gefahren für seine Bürger verschweigen dieser scheiternde Staat und seine verantwortungslosen Politiker dann noch?

Staatliche Hilfen gibt es bisher kaum

Um 18.05 - der Uhrzeit, bei der so viele Uhren in Beiruts Innenstadt stehen blieben, als die Druckwelle am 4. August 2020 sie von den Wänden fegte - versammelten sich trotz des strengen Lockdowns Bürger am Hafen, um an ihre Not zu erinnern. Staatliche Hilfen gab es bisher kaum, in dieser Woche zumindest hat das Kabinett einen Fonds von 50 Milliarden libanesischen Pfund zum Wiederaufbau von beschädigten Häusern und Unternehmen angekündigt.

Eine Summe, die astronomisch groß klingt, es aber nicht ist: Laut dem offiziellen Wechselkurs entspricht dies 28,5 Millionen Euro, was angesichts der Schäden, deren Summe die Weltbank auf 3,9 Milliarden schätzt, lächerlich ist. Nur ist die Staatshilfe nicht einmal mehr das wert: Bei den Geldwechslern auf dem Schwarzmarkt bekäme man dafür gerade noch 5,6 Millionen Euro. Während die Preise für Nahrungsmittel und Baumaterialien steigen, verfällt die Landeswährung seit Monaten, steht gerade noch beim Sechstel des Wertes von Ende 2019.

Angehörige von Opfern demonstrierten auch vor der Justizpalast - denn auch bei der juristischen Aufarbeitung der Katastrophe bewegt sich nichts. Derzeit wirklich gar nichts: Der mit den Ermittlungen beauftragte Richter Fadi Sawwan hat seine Untersuchungen bis mindestens 8. Februar eingestellt, so lange gilt nach bisherigen Angaben die strenge Ausgangssperre, die etwa in der nordlibanesischen Stadt Tripoli zu Hungerkrawallen geführt hat. In einem Land, in dem mittlerweile mehr als jeder Zweite unter der Armutsgrenze lebt, werden wenige Tage Verdienstausfall schnell zur Überlebensfrage.

Schon vor dem Lockdown hakte es in den Untersuchungen

Doch auch schon vor dem Lockdown hakte es in den Untersuchungen: Nachdem Sawwan im August mit den Ermittlungen begonnen hatte, ließ er zunächst 25 Verdächtige festsetzen und befragen. Der Großteil von ihnen waren mittlere Beamte der Hafen- und Zollverwaltung, die von den 2750 Tonnen Ammoniumnitrat in Lagerhalle 12 wussten. Als Sawwan dann im Dezember einige Hierarchieebenen weiter nach oben zielte und drei Ex-Minister sowie den geschäftsführenden Premier Hassan Diab als Verdächtige vernehmen wollte, war der Widerstand plötzlich groß: Im Parlament wurde Sawwans Befugnis infrage gestellt, auch unter Mitgliedern der Exekutive nach Verantwortlichen zu suchen; die Beschuldigten weigerten sich schlicht, seinen Vorladungen Folge zu leisten. Als ein Kassationsgericht dem Richter Anfang Januar den Rücken stärkte, verhinderte die Pandemiebekämpfung weitere Ermittlungen.

Als der unselige Jahrestag dann am Donnerstag aber anbrach, verdunkelte eine ganz andere Nachricht viele Gemüter: Im schiitisch dominierten Süden des Landes hatte man in den Morgenstunden eine Leiche in einem Auto entdeckt. Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei dem mit einer Schusswaffe getöteten Mann um den Aktivisten und Verleger Lokman Slim handelte, einen der schärfsten Kritiker der Hisbollah, die als Zwitter aus Partei und Miliz einen Staat im Staat unterhält.

Slim, der selbst Schiit ist, musste schon lange mit Drohungen leben, am Mittwoch schlug seine Frau Alarm, da sie ihn nicht mehr erreichen konnte. Seit klar ist, dass der 59-Jährige hingerichtet wurde, fürchten viele, dass die Welle politischer Morde nun wieder anrollen könnte, die das Land von 2004 an für zehn Jahre erschütterte. In seinem letzten Fernsehauftritt äußerte sich Slim übrigens auch zur Explosion im Hafen: Es gebe Dokumente, die eine Verwicklung der Hisbollah belegen, sagte er. Die Demonstranten in Beirut skandierten aus diesem Grund am Abend auch seinen Namen.

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