Lehrermangel:Den Schulen könnten bald noch viel mehr Lehrer fehlen als bislang befürchtet

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Lehrerinnen und Lehrer fehlen in Deutschland - ganz akut und ganz grundsätzlich. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Wie viele Lehrkräfte werden gebraucht - und wie viele stehen zur Verfügung? Bildungsforscher Klaus Klemm hat die Prognosen der Kultusminister überprüft. Sein Ergebnis: Sie haben sich zweimal verrechnet.

Von Paul Munzinger, München

Den Schulen in Deutschland stehen schwere Wochen bevor - und akuter Lehrermangel. Die Infektionszahlen gerade unter Kindern und Jugendlichen erreichen täglich neue Höchstwerte, und auch die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer, die vorübergehend ausfallen, steigt. Nordrhein-Westfalen etwa meldete am Dienstag 6349 Lehrer, die zum Stichtag 19. Januar nicht im Präsenzunterricht einsetzbar waren, fast 2500 von ihnen wegen einer Corona-Infektion. Eine Woche zuvor waren insgesamt knapp 5000 Lehrer coronabedingt ausgefallen. Um Betreuungslücken zu stopfen, bot Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) Schulen und Kitas bereits Verstärkung durch pädagogische Fachkräfte an, die für Programme des Bundes arbeiten. Es gelte, so Spiegel, "alle verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren".

Doch ein eklatanter Mangel an Lehrkräften, der die Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen erforderlich macht, ist für die deutschen Schulen keineswegs ein kurzfristiges, von Corona verursachtes Problem. Im Gegenteil: Gerade Grund- und Förderschulen haben schon seit Jahren mit massivem Lehrermangel zu kämpfen, den die Länder nur notdürftig mit Quereinsteigern und reaktivierten Pensionären kompensieren können. Vielen Schulen, das bestreitet auch die Kultusministerkonferenz (KMK) nicht, stehen nicht nur schwere Wochen, sondern schwere Jahre bevor. Und womöglich wird die Lage noch schlimmer als bislang angenommen.

Der renommierte Essener Bildungsforscher Klaus Klemm hat im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) untersucht, wie belastbar die KMK-Prognosen zum Lehrermarkt für die Jahre 2020 bis 2030 sind. Sein Ergebnis, das er am Dienstag vorstellte: Die Länder haben sich verrechnet. Im Jahr 2025 werden Klemms Berechnungen zufolge 45 000 Lehrer an den Schulen fehlen - und damit mehr als doppelt so viele, wie von der KMK kalkuliert. Für das Jahr 2030 prophezeit Klemm gar eine Lücke in den Lehrerzimmern von 81 000 Personen, fast sechs Mal so groß wie von den Kultusministerien vorhergesagt. Und selbst das, glaubt Klemm, ist erst die halbe Wahrheit.

Die Vorhersagen der Politik seien "in hohem Maße unseriös"

Die Prognose der KMK geht davon aus, dass zwischen 2020 und 2030 insgesamt knapp 350 000 neu ausgebildete Lehrkräfte die Universitäten verlassen und den Schulen zur Verfügung stehen werden, im Schnitt etwa 32 000 pro Jahr. Klemm ist der Meinung, dass es tatsächlich mehr als 60 000 weniger sein werden. Der Grund: Die Zahl der Schulabsolventen sinke aktuell ebenso wie die Zahl der Studierenden im Lehramt.

Derartige empirische Daten spielten aber für die Vorausberechnungen in der Hälfte der Länder keine Rolle, kritisiert Klemm. Vielmehr schreibe etwa Nordrhein-Westfalen von 2020 bis 2030 einfach die Zahlen des jeweiligen Vorjahres fort; Sachsen rechne gar damit, dass Jahr für Jahr genau so viele Lehrer zur Verfügung stehen, wie an den Schulen gebraucht werden. Diese Vorhersagen seien "grotesk" und "in hohem Maße unseriös", sagt Klemm. "Die haben im Grunde gar keine Angebotsrechnung gemacht."

Doch die Länder, glaubt der Bildungsforscher, überschätzten nicht nur das Angebot an Lehrkräften, sie unterschätzten auch die Nachfrage. Klemm geht davon aus, dass aktuelle bildungspolitische Weichenstellungen den Bedarf deutlich erhöhen werden, ohne dass die Länder dies in ihren Prognosen berücksichtigten. Das gilt zum Beispiel für den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder, den die damalige schwarz-rote Bundesregierung 2021 beschlossen hat. Von 2026 an soll er zunächst für Erstklässler und bis 2029 dann für alle Grundschüler greifen. Soll der Ganztag aber nicht nur der Betreuung, sondern auch der Bildung dienen, müssten dafür nicht nur Erzieherinnen, sondern auch Lehrkräfte eingeplant werden. Klemm rechnet mit fast 20 000 Stellen bis 2030. In der Statistik tauchten sie aber bislang nicht auf.

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Der Passauer Pädagogik-Professor Norbert Seibert warnt: Die am schlechtesten ausgebildeten Lehrkräfte würden auf die schwächsten Schüler losgelassen. Und die Corona-Pandemie mache alles noch schlimmer.

Das gelte auch für die zusätzlichen Lehrer, die in den nächsten Jahren für die Inklusion und die Unterstützung sogenannter Brennpunktschulen gebraucht würden. Klemm veranschlagt jeweils einen Mehrbedarf von etwa 25 000 Stellen. Zu der Lücke von 81 000 fehlenden Lehrern bis 2030 kommen in seiner Prognose also noch insgesamt 75 000 Personen hinzu.

Folgt man Klemm, dann wird sich die Situation auf dem Lehrermarkt also bis 2030 nicht entspannen, wie von der KMK vorhergesagt, sondern massiv verschärfen. Und so, wie auch die Schularten jeweils unterschiedlich betroffen sind, so verteilt sich der Lehrermangel auch nicht gleichmäßig über die Fächer. Besonders eng könnte es in den sogenannten Mint-Fächern werden, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. In Nordrhein-Westfalen, hat Klemm berechnet, wird es 2030 nur für ein Drittel der neu zu besetzenden Mint-Stellen auch voll ausgebildete Bewerber geben. Dieser Befund sei auf die anderen Länder übertragbar.

Udo Beckmann, der Vorsitzende des VBE, bezeichnete die KMK-Prognose als "riesige Mogelpackung". Die Politik müsse "umgehend und vollumfänglich die dringend notwendigen Konsequenzen aus den vorliegenden Erkenntnissen ableiten und endlich aufhören sich den tatsächlichen Lehrkräftebedarf schönzurechnen". Beckmann forderte unter anderem eine bundesweite Lehrkräftegewinnungskampagne und zusätzliche Studienplätze. Die "Attraktivität des Berufsbildes" müsse zudem "spürbar" gesteigert werden.

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