Militärische Lage in der Ukraine:Kämpfe um die Großstädte, Verhandlungen in der Türkei

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Eine ukrainische Polizistin ist von ihren Gefühlen überwältigt, nachdem sie Menschen getröstet hat, die aus dem Kiewer Vorort Irpin evakuiert wurden. (Foto: Vadim Ghirda/dpa)

Während in der Ukraine gekämpft wird und geplante Fluchtkorridore nicht eingerichtet werden können, sollen die Unterhändler in Istanbul über einen neutralen Status des Landes verhandeln. Was kann man sich darunter vorstellen?

Von Nicolas Freund

Während in Istanbul über einen Waffenstillstand und die mögliche Neutralität der Ukraine verhandelt werden soll, ist der Krieg im Norden der Türkei angekommen. Im Schwarzen Meer vor der Küste des Ortes İğneada wurde eine Seemine gesichtet. Am Samstag war bereits am Bosporus eine solche Mine entdeckt und entschärft worden. Ob die Vorfälle in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stehen, ist unklar, aber sehr wahrscheinlich. Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig, das Schwarze Meer vermint zu haben. Von wem genau die schwimmenden Sprengfallen stammen, ist den Fischern und anderen Seeleuten aber wahrscheinlich ziemlich egal: Am Wochenende musste am Bosporus bereits zeitweise der Schiffsverkehr eingestellt werden, türkischen Fischern im Nordwesten des Schwarzen Meers ist derzeit das Nachtfischen verboten.

Da stellt sich am Rande der Verhandlungen auch den einfachen Bürgern der Nachbarländer schnell die Frage, wie denn die nun zu einer möglichen Lösung des Konflikts gewordenen Idee der Neutralität der Ukraine konkret aussehen könnte. Russland soll schon Mitte März bei Verhandlungen die Möglichkeit einer solchen Lösung signalisiert haben, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij sagte zuletzt in einem Interview mit russischen Journalisten, er sei bereit, über einen neutralen Status der Ukraine als Teil einer Friedensvereinbarung zu sprechen.

Das wirft viele Fragen auf. Russland ist mit dem Vorschlag von seinem impliziten Kriegsziel abgekommen, die Ukraine in ihrer vorherigen Form praktisch aufzulösen. Eine Art Pufferstaat zwischen russischem Staatsgebiet und den westlichen Nato- und EU-Staaten könnte auch von russischer Seite als Erfolg des Angriffs dargestellt werden: Die Ausbreitung des westlichen Einflusses nach Osten wäre gestoppt und die Ukraine wäre zwar nicht direkt unter dem Einfluss des Kremls, durch die kulturelle Nähe der beiden Länder aber auch Russland verbunden. Als Beispiele für solche neutralen Staaten werden Österreich, Schweden und Finnland genannt, was allerdings einen falschen Eindruck von dem Status erweckt, den die Ukraine unter einer solchen Vereinbarung wahrscheinlich hätte.

Würde Russland einen EU-Beitritt der Ukraine zulassen?

Denn alle drei genannten Länder sind Mitglieder der Europäischen Union. Würde Russland dann auch einen EU-Beitritt der Ukraine zulassen? Die Proteste und Kämpfe 2013 und 2014 auf dem Maidan-Platz in Kiew und an anderen Orten in der Ukraine hatten unter anderem ein gescheitertes Assoziierungsabkommen mit der EU als Auslöser. Vermutlich auch unter dem Eindruck dieser vehementen pro-europäischen Demonstrationen ließ der russische Präsident Wladimir Putin die Krim und den Osten der Ukraine besetzen. Von einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine war da noch gar keine Rede.

Die wäre dann vermutlich endgültig keine Option mehr. Auch Österreich, Schweden und Finnland sind keine Mitglieder des Verteidigungsbündnisses - vermutlich ist das ein zentraler Punkt für die russische Verhandlungsposition. Allerdings könnten diese drei Länder, wenn sie wollten, Mitglieder der Nato werden. Im Falle von Finnland und Schweden ist es derzeit sogar sehr gut möglich, dass die beiden Länder ihre militärische Neutralität aufgeben: Fast zwei Drittel der Finnen sind inzwischen für einen Nato-Beitritt ihres Landes, das eine 1340 Kilometer lange Grenze mit Russland hat. In Schweden gibt es noch nicht so viel Zustimmung, das kann sich aber im Zuge des Wahlkampfes im Herbst noch ändern. Beide Länder arbeiten militärisch ohnehin längst eng mit anderen europäischen Ländern zusammen.

Dazu kommt: Österreich, Finnland und Schweden sind wirtschaftlich, kulturell und politisch eng mit Europa verbunden. Es wird, erst recht nach dem Krieg, Jahrzehnte dauern, bis die Ukraine mit diesen Ländern vergleichbar ist - deshalb ist das ein irreführender Vergleich, der wohl vor allem der Ukraine die Vorstellung eines solchen Daseins als Grenzland zwischen Russland und dem Westen erleichtern soll.

Eine Demilitarisierung der Ukraine dürfte nicht infrage kommen

Es ist auch unwahrscheinlich, dass Russland die Krim und die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine wieder aufgibt. Selenskij deutete zuletzt an, zum Beispiel in einem Interview mit der britischen Zeitschrift The Economist, in dieser Sache Kompromisse einzugehen, wenn das zu Frieden führe: "Sieg bedeutet, so viele Leben wie möglich zu retten. (...) Unser Land ist wichtig, ja, aber letztendlich ist es nur Territorium." Klar ist auch, dass die russische Bedrohung nicht verschwinden wird, weshalb eine Demilitarisierung der Ukraine nicht infrage kommen dürfte. Es ist aber zweifelhaft, ob Russland unter "Neutralität" ein EU-Mitglied mit einer starken, eigenständigen Armee versteht.

Die Verhandlungen, die an diesem Dienstag in Istanbul beginnen sollen, finden allerdings auch statt, während in der Ukraine nach wie vor teils schwere Kämpfe toben. Laut BBC wurden am Montag nach Geheimdienstberichten, die vor russischen "Provokationen" warnten, keine Fluchtkorridore aus den belagerten Städten eingerichtet. Die russischen Streitkräfte sollen sich an der Grenze und in den besetzten Gebieten neu formieren, wie der ukrainische Generalstab mitteilte. Es toben Kämpfe um die Städte Cherson, Charkiw und den Westen von Kiew. Ukrainische Truppen sollen russische Streitkräfte bei Sumy und östlich von Kiew zurückgedrängt haben. Diese Angaben lassen sich nicht verifizieren. Die russischen Truppen in der Nähe des Kernkraftwerks Tschernobyl sollen abgezogen sein, meldet die Agentur Reuters.

Das britische Verteidigungsministerium teilte mit, Russland nehme weiter Gebiete in und um die seit Wochen belagerte Stadt Mariupol ein. Derzeit werde auch um den Hafen gekämpft. Noch immer ist es nicht möglich, Hilfsgüter in die eingekesselte Stadt zu bringen, in der nach wie vor Zehntausende Menschen vermutet werden.

Für Aufregung sorgte am Montag ein Bericht des Wall Street Journal, in der Nacht zum 4. März seien mehrere Teilnehmer der Friedensverhandlungen vergiftet worden. Eines der Opfer sei der russische Oligarch Roman Abramowitsch gewesen. Unterhändler der Ukraine wiesen den Bericht am Abend zurück, auch Vertreter der US-Regierung äußersten Zweifel.

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