Fall Nawalny:Charité sieht Anzeichen für Vergiftung

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Die Ehefrau des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, Julia (l), mit einer Begleiterin vor der Charite in Berlin, wo ihr Mann behandelt wird. (Foto: dpa)

Die Untersuchungen am Berliner Krankenhaus Charité deuten auf ein Gift, das wirkt wie der Kampfstoff Sarin. Der Zustand des Kremlkritikers ist "ernst", es besteht jedoch keine akute Lebensgefahr.

Von Nico Fried und Kathrin Zinkant, Berlin

Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hat offenbar eine Vergiftung erlitten. Darauf weisen die Ergebnisse der Untersuchungen hin, die von Ärzten am Berliner Krankenhaus Charité vorgenommen wurden.

Der Gesundheitszustand Nawalnys ist nach Angaben des Krankenhauses noch immer "ernst", es bestehe "derzeit jedoch keine akute Lebensgefahr". Der Patient befinde sich weiter im künstlichen Koma. Laut Charité besteht die Gefahr, dass Nawalny durch die Vergiftung gesundheitliche Spätfolgen davonträgt.

Nawalny, der als bekanntester Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin gilt, war am Samstag aus dem sibirischen Omsk nach Berlin geflogen worden, nachdem er zuvor während eines Fluges zusammengebrochen war.

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Die Charité veröffentlichte am Montagnachmittag ein Statement, in dem es heißt: "Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin." Die konkrete Substanz stehe aber noch nicht fest. Zu ihrer Bestimmung würden weitere Analysen durchgeführt.

Der Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher

Die Wirkung der Substanz sei mehrfach und von verschiedenen unabhängigen Laboren festgestellt worden, heißt es in der Pressemitteilung der Klinik. Cholinesterase-Hemmer sind Medikamente oder auch Gifte wie der chemische Kampfstoff Sarin, die in die Übertragung von Signalen an Nervenzellen eingreifen. Sie hemmen den Abbau eines zentralen Botenstoffs zwischen den Nervenzellen, sodass es zu einer Überstimulation lebenswichtiger Organe kommt. Die Folgen können von massiven Bauchkrämpfen bis hin zur Atemlähmung reichen.

Entsprechend der Diagnose werde Nawalny mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. Dieses Medikament wirkt wie eine Art Spiegelgift, setzt sich anstelle des Botenstoffs an die Rezeptoren. So wird die Überregung durch den Cholinesterasehemmer aufgehoben. Der Ausgang der Erkrankung bleibe unsicher, Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, könnten zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.

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Auch die Ärzte des Kreml-Kritikers im sibirischen Omsk weisen Vorwürfe zurück, sie hätten unter Kontrolle der Behörden gestanden. Regierungssprecher Seibert hält einen Giftanschlag auf Nawalny für gut möglich.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas erklärten am Abend in einer gemeinsamen Stellungnahme: "Angesichts der herausgehobenen Rolle von Herrn Nawalny in der politischen Opposition in Russland sind die dortigen Behörden nun dringlich aufgerufen, diese Tat bis ins Letzte aufzuklären - und das in voller Transparenz." Die Verantwortlichen müssen ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden.

Regierungssprecher Steffen Seibert hatte zuvor schon gesagt, es bestehe der Verdacht, "dass Herr Nawalny vergiftet wurde, wofür es in der jüngeren russischen Geschichte leider einige Verdachtsfälle gab", sagte Seibert. Damit nahm Seibert Bezug auf mehrere, teilweise ungeklärte Vergiftungen ehemaliger Agenten, politischer Oppositioneller und einer kritischen Journalistin.

Seibert trat Berichten entgegen, Nawalny habe den Status eines Gastes der Bundesregierung. Kanzlerin Merkel habe seine Einreise aus humanitären Gründen ermöglicht. Zu seiner Bewachung durch das Bundeskriminalamt sagte Seibert: "Weil man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von einem Giftanschlag ausgehen kann, ist Schutz notwendig."

© SZ vom 25.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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