Türkische Kommunalwahlen:Wo Erdoğan verloren hat

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Präsident Erdoğan stellt sich nach der Wahlniederlage zusammen mit seiner Frau Emine in Ankara seinen Anhängern. (Foto: ADEM ALTAN/AFP)

Die Türkei hat eine neue politische Landkarte - mit Erfolgen für die säkulare CHP, die tief ins Kernland der Regierungspartei AKP hineinragen. Aber auch eine islamistische Partei macht dem Präsidenten erfolgreich Konkurrenz.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Für Recep Tayyip Erdoğan bedeuten die Zahlen eine Heimniederlage, und sie sind von einer solchen Wucht, dass es seine Gegner am Wahlabend selbst kaum glauben konnten. Zum Beispiel in Üsküdar, einem traditionell konservativen Istanbuler Bezirk am asiatischen Ufer des Bosporus, dort hat Erdoğan seit vielen Jahren sein Privathaus, dort gewann immer seine AKP. Bis zu diesem Sonntag, als die Kandidatin der oppositionellen CHP siegte.

In den Istanbuler Bezirken sind es mehr als symbolische Siege für die Opposition, sie dürften Erdoğan wehtun. Auch in Beyoğlu, der Innenstadt auf der europäischen Seite, wo der Präsident aufwuchs, wo er selbst bei Kommunalwahlen erste politische Gehversuche unternahm, war seiner AKP das Rathaus über Jahrzehnte hinweg sicher. Am Sonntag war es damit vorbei. Und es war nicht mal knapp.

Wenn man will, kann man das Wort "historisch" benutzen, viele türkische Journalisten halten sich damit nicht mehr zurück: Für die säkulare CHP ist es das beste Wahlergebnis seit 1977. Seit es Erdoğans AKP gibt, schafft es die CHP zum ersten Mal auf den ersten Platz: mit 37,6 Prozent der Stimmen laut den Zahlen der Anadolu-Agentur, die AKP kommt auf 35,7 Prozent, dahinter folgen einstellig die islamistische "Yeniden Refah Partisi (YRP)", die rechtsextreme MHP und die prokurdische DEM.

Es war eine neue politische Karte, die sich den Türkinnen und Türken am Wahlabend im Fernsehen zeigte. Eine, wie das Land sie nicht gesehen hat, seit Erdoğan regiert. Die CHP war während dieser Jahre meist auf die Provinzen entlang der Mittelmeerküste begrenzt, erst vor fünf Jahren gelangen ihr Wahlsiege in Istanbul und Ankara. Noch bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Mai zeigte sich die Spaltung zwischen Stadt und Land - die Metropolen gingen an die Opposition, der Amtsinhaber sicherte sein politisches Überleben draußen im weiten Anatolien.

Am Sonntag feierte die CHP auch dort Erfolge, ihre rote Farbe schob sich auf der Karte weit ins Landesinnere. Im Erdbebengebiet, wo die Menschen vergangenes Jahr trotz allem wieder Erdoğan wählten, straften sie diesmal dessen lokale Vertreter ab - und das in Hochburgen der AKP: In Adiyaman gewann die Opposition, im tief konservativen Kahramanmaraş, wo die CHP sonst chancenlos war, kam sie der AKP jetzt zumindest nahe, eine kleine Sensation.

Es hat sich etwas verschoben in Anatolien, das sieht man der Karte an. Sie ist komplizierter geworden. Manche Provinzen wechselten von Erdoğans AKP direkt an die CHP, anderswo suchten die Wählerinnen und Wähler nach weiteren Alternativen - und fanden sie zum Beispiel bei der YRP, die sich als wahre Heimat für Islamisten verkauft. Sie stellt im fromm-konservativen Şanlıurfa künftig den Bürgermeister, noch eine Hochburg, die Erdoğan verliert. Sechs Prozent holt die YRP landesweit, alles Stimmen, die dem Präsidenten fehlen.

Der hat damit zum ersten Mal Konkurrenz im eigenen Lager. Noch größer ist der Schwund derer, die gar nicht mehr zur Wahl gingen. Vergleicht man die Stimmen von Erdoğans Wahlallianz 2023 mit denen der AKP und ihrer verbündeten MHP am Sonntag, fehlt fast ein Drittel. Fliehkräfte allerorten.

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Die Gründe dafür? Offenbar macht die Wirtschaftskrise den Menschen mehr zu schaffen als noch vor einem Jahr, besonders die Älteren sind mit ihren Renten unzufrieden. Es scheint, als hätten die Menschen bei diesen Wahlen abrechnen wollen: mit Erdoğan selbst und mit seinen örtlichen Vertretern, die nicht annähernd die Strahlkraft des Präsidenten besitzen.

Bei Kommunalwahlen taten sich Erdoğans Anhänger schon immer leichter, auch mal anders zu entscheiden. Diesmal aber ist es für den Präsidenten ein Debakel. Die Niederlage ist flächendeckend, und sie zeigt, dass der Apparat der AKP nicht mehr funktioniert. Es fehlt an anderen Köpfen, neben Erdoğan selbst, während die Opposition charismatische Kandidaten gefunden hat - nicht nur in Istanbul.

In der Hauptstadt triumphiert ebenfalls die CHP

In Ankara, auch hier regierte bis vor fünf Jahren die AKP, kam der CHP-Amtsinhaber Mansur Yavaş auf 60 Prozent, fast doppelt so viel wie sein Herausforderer. Die Opposition ist in den Kommunen, anders als landesweit, auch eine personelle Alternative.

Zwei Zahlen zeigen, was in der Türkei am Sonntag passiert ist. Fast zwei Drittel der Türkinnen und Türken leben ab jetzt mit Bürgermeistern der Opposition. Ein Gebiet, in dem 80 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung generiert wird. Es ist eine Art Arbeitsteilung, mit der das Land künftig regiert wird: im Präsidentenpalast auf weitere vier Jahre Recep Tayyip Erdoğan, aber vor Ort seine Gegner.

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