Vielleicht war es nie anders, und doch beschleicht einen das Gefühl, als zögen Tempo und Taktung des politischen Betriebs dem Resonanzraum auch wichtiger öffentlicher Reden immer engere Grenzen. Richard von Weizsäckers Ansprache zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa am 8. Mai 1985 war monatelang Gesprächsstoff. Und mag auch in der digitalen Welt kein Bedarf mehr bestehen für die damaligen Distributionsformen: Der millionenfache Versand des Textes, in dem der Bundespräsident die Kapitulation als "Tag der Befreiung" anerkannte, signalisierte eine Aufmerksamkeit für das gesprochene und gedruckte Wort, die selten geworden ist.
Was die heutige Halbwertszeit historischer Reflexion betrifft, boten die vergangenen Wochen reichlich Anschauungsmaterial. Wo zum Beispiel hätte eine Erörterung stattgefunden über die Reden, die zur hundertsten Wiederkehr des Endes des Ersten Weltkriegs 1918 gehalten wurden? Wo die Auseinandersetzung mit der öffentlichen Repräsentation des kompliziertesten Gedenkdatums der Deutschen, des 9. November, an dem sich in diesem Jahr auch zum achtzigsten Mal die "Reichskristallnacht" jährte? Dabei zog sich durch die Ansprachen des Bundespräsidenten, der Bundeskanzlerin und des französischen Staatspräsidenten geradezu so etwas wie ein gemeinsames Leitmotiv: nämlich Kritik am wiedererstarkten Nationalismus im jeweils eigenen Land, in Europa und darüber hinaus - und das Bemühen, dieser Entwicklung mit Plädoyers für einen "aufgeklärten" Patriotismus entgegenzutreten.
Patriotismus sei das genaue Gegenteil von Nationalismus, befand Emmanuel Macron am Vormittag des 11. November, als er vor Staatsgästen aus aller Welt am Arc de Triomphe des Waffenstillstands an der Westfront gedachte. Am Nachmittag, in ihrer Eröffnungsrede vor dem Pariser "Friedensforum", dem Donald Trump ostentativ aus dem Weg gegangen war, sekundierte Angela Merkel mit Warnungen vor wachsendem "nationalen Scheuklappendenken" und "nationaler Selbstherrlichkeit". Zehn Tage später im Bundestag griff die Kanzlerin Macrons Formulierung fast wörtlich auf und kritisierte all jene, "die glauben, sie könnten alles allein lösen und müssten nur an sich denken: Das ist Nationalismus in reinster Form. Das ist kein Patriotismus; denn Patriotismus ist, im deutschen Interesse auch andere mit einzubeziehen und Win-win-Situationen zu akzeptierten."
Von dem P-Wort am prononciertesten Gebrauch machte der Bundespräsident. In seiner Rede zur Ausrufung der Republik am 9. November 1918 plädierte Frank-Walter Steinmeier für einen "Patriotismus mit leisen Tönen und gemischten Gefühlen". Die Formel sucht die gleichsam doppelte Begründung der zweiten deutschen Demokratie zu unterstreichen. Denn deren Identität sei nicht zu denken "ohne die Katastrophe zweier Weltkriege, ohne das Menschheitsverbrechen der Shoah", erkläre sich aber "auch nicht allein ex negativo". Steinmeier weiter: "Man kann unser Land nicht begründen ohne die weitverzweigten Wurzeln von Demokratie- und Freiheitsbestrebungen, die es über Jahrhunderte hinweg gegeben hat."
Damit knüpfte der Bundespräsident an Gustav Heinemann an und an dessen Engagement für die Erinnerungsorte der deutschen Demokratiegeschichte. Diese verdienten, so Steinmeier, "mehr Herzblut und, ja, gern auch mehr finanzielle Mittel". Das war, wie (fast zu) vieles in der Rede, nicht zuletzt mit Blick auf die AfD gesagt, deren Anhänger im vergangenen Frühjahr bezeichnenderweise einen "Marsch der Patrioten" zum Hambacher Schloss inszenierten.
Schwarz-Rot-Gold gehört nicht den Nationalisten
Das Ziel der Rechten, sich der Geschichte der deutschen Freiheitsbewegung zu bemächtigen und sie ins Völkisch-Nationalistische zu verkürzen, erfordert klaren Widerspruch. Mit einem Facelifting vernachlässigter Gedenkstätten ist das nicht getan. Steinmeiers Idee eines "demokratischen Patriotismus" greift denn auch weiter aus als Heinemanns vor fast einem halben Jahrhundert bekundete Sympathien für die Revolutionäre von 1848/49. Sie sucht dem Faktum Rechnung zu tragen, dass sich die historisch-politische Konstellation in Deutschland und Europa seit einiger Zeit gravierend verändert hat und weiter zu verschieben droht: Zum einen wird in der Bundesrepublik von rechts in Frage gestellt, was zur Ausbildung einer stabilen demokratischen Kultur entscheidend beigetragen hat, nämlich die selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und die Erinnerung an den Holocaust. Zum anderen ist es nicht gelungen, den Mord an den europäischen Juden als negativen Gründungsmythos eines geeinten Europas zu verankern.
Stattdessen beobachten wir fast überall eine Rückkehr des Nationalismus, gegen den sich hierzulande nun ein "aufgeklärter Patriotismus" in Stellung zu bringen sucht - von Merkel über Steinmeier bis hin zu Robert Habecks Grünen.
Angesichts der unklaren Wirkungen und Folgen solcher semantischen (Rück-)Eroberungsstrategien bleiben Fragen: War der "Verfassungspatriotismus", von dem Dolf Sternberger schon 1979 sprach und den vor allem Jürgen Habermas später popularisierte, eigentlich eine so schlechte Idee? Braucht es das alte P-Wort, um einen neuen politischen Gemeinsinn zu begründen? Und begibt man sich damit nicht schon halb auf den rhetorischen Rummelplatz der Rechten?
Nicht zu bestreiten ist jedenfalls, dass deren Demagogen viel zu lange Narrenfreiheit hatten. 2015 hielt Günther Jauch es für richtig, Björn Höcke in seine Talkshow einzuladen, der prompt ein schwarz-rot-goldenes Banner auf seiner Sessellehne drapierte. Jauch wirkte wie gelähmt - aber auch keiner seiner weiteren Gäste war couragiert genug, die Farben der Demokratie in die Mitte des Studios zu rücken. Soviel Geistesgegenwart muss künftig sein. Der Bundespräsident hat den Grund dafür genannt: "Wer heute Menschenrechte und Demokratie verächtlich macht, wer alten nationalistischen Hass wieder anfacht, der hat gewiss kein historisches Recht auf Schwarz-Rot-Gold!"