Folgen der Klimakrise:Wenn Rentiere plötzlich Seegras fressen

Verendetes Rentier auf Spitzbergen

Dass Tiere in freier Wildbahn sterben, ist normal. Der Bestand der Rentiere geht aber zu stark zurück.

(Foto: Elin V. Jenssen/Norwegian Polar Institute)

Weil die Herden auf Spitzbergen kaum noch Flechten und Moose finden, müssen sie neue Nahrungsquellen suchen - und dabei auf das zurückgreifen, was das Meer anschwemmt.

Von Kai Strittmatter

Das Spitzbergen-Ren ist das kleinste aller Rentiere. Mit seinem gedrungenen Körper hat es sich angepasst an das harte Leben auf der hocharktischen Inselgruppe Svalbard (deutsch: Spitzbergen). Anders als ihre Artgenossen wandern die Spitzbergen-Rentiere kaum; sie vermeiden jede unnötige Bewegung, um in den harten Wintern am 79. Breitengrad Energie zu sparen. Sie gelten als extrem anpassungsfähig.

Forscher fanden nun heraus, dass die Rentiere vor Kurzem damit begannen, an der Küste angeschwemmtes Seegras zu fressen. Ihre traditionelle Nahrung, vor allem Flechten und Moose, wird in den langen, dunklen Wintern Svalbards zunehmend knapp. Schuld ist die Klimakrise.

Als Laie könnte man zwar meinen, dass die globale Erwärmung den Tieren zugutekommt, doch in der arktischen Region geht die Rechnung "wärmeres Wetter gleich mehr Futter" nicht auf - im Gegenteil. Die hohen Temperaturen der vergangenen Jahre können für die Tiere katastrophale Auswirkungen haben: Immer öfter nämlich fällt nun im Winter von Svalbard Regen statt Schnee. Der sickert dann durch den schon vorhandenen Schnee zu Boden und gefriert dort zu einer Eisschicht. Ein eiserner Panzer, undurchdringlich für die scharrenden Hufe der Rentiere. Wenn die Tiere zu lange kein Futter finden, verhungern sie, zuerst die Schwachen, die ganz Jungen und ganz Alten.

Folgen der Klimakrise: Die Ökologin Åshild Ønvik Pedersen hat viele tote Tiere gefunden.

Die Ökologin Åshild Ønvik Pedersen hat viele tote Tiere gefunden.

(Foto: Elin V. Jenssen/Norwegian Polar Institute)

Dass einige Rentiere den harten Winter nicht überleben, dass manche verhungern, ist normal. Und doch schlagen Wissenschaftler des norwegischen Polarinstitutes nun Alarm. Sie wandern seit vier Jahrzehnten jedes Jahr durch die bislang unberührte Tundra Spitzbergens und kartografieren den Bestand wilder Rentiere. In diesem Jahr entdeckten sie die Kadaver von mehr als 200 verhungerten Rentieren, so viele wie nie zuvor.

"Beängstigend" seien die vielen toten Tiere gewesen, sagte die Ökologin Åshild Ønvik Pedersen dem norwegischen Sender NRK. Schuld seien die im Winter zunehmend "starken Regenfälle, die auf die globale Erwärmung zurückzuführen sind", sagte Pedersen. "Der Klimawandel verschärft die Nahrungsmittelknappheit."

In der Arktis lässt der Klimawandel die Temperaturen zwei- bis dreimal so schnell ansteigen wie im Rest der Welt. Auf der Inselgruppe Svalbard sind die Temperaturen seit 1971 schon um drei bis vier Grad gestiegen. Der Permafrost taut, es kommt zu Erdrutschen, Häuser und Kirchen drohen einzustürzen, die Eisbären Svalbards müssen immer weiter schwimmen, um Beutetiere zu finden. In den Gewässern wird die arktische Meeresfauna verdrängt durch Arten, die aus dem weiter südlich gelegenen Atlantik kommen.

Nun also trifft es die Rentiere. Noch ist unklar, inwieweit ihnen ihre Anpassungsfähigkeit dabei helfen wird, in diesen neuen, warmen Zeiten zu überleben. Es reicht jedoch offenbar nicht, im Winter Seegras zu fressen: Die Tiere brauchten zur Ergänzung weiterhin ihr gewohntes Futter und wanderten jeden Tag hin und her zwischen der Küste und den wenigen eisfreien Stellen, meldete das Portal Norwegian Scitech News. Zudem hat die Nahrungsumstellung gesundheitliche Nebenwirkungen: Den Forschern zufolge litten die das Seegras fressenden Rentiere allesamt unter starkem Durchfall.

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