Jeder Konflikt hat seine mystischen Figuren, und in diesem Konflikt ist dies der Scharfschütze. Er töte aus dem Hinterhalt, raunen die Menschen, er verschone weder Kirgisen noch Usbeken. Der Scharfschütze ist ein unheimlicher, gesichtsloser, übermächtiger Feind.
Usbekische Frauen in einem Flüchtlingslager nahe der Stadt Osch.
(Foto: dpa)Zurzeit liegt dieser Über-Feind auf einer Pritsche im städtischen Krankenhaus von Osch, jener Stadt, in der die Kämpfe zwischen Usbeken und Kirgisen vor ein paar Tagen begannen und das Land an den Abgrund brachten. Die dürren Beine, der kahle, dunkel angelaufene Schädel, die nach oben verdrehten Augen- so also sieht ein Scharfschütze aus.
Andererseits: Woher weiß man das? "Alles deutet darauf hin", sagt ein Arzt und bohrt dem Mann in die verpflasterte Schulter: "Sehen Sie hier, Abdrücke neben dem Schlüsselbein. Das kommt von der Waffe. An seinem Kopf sieht man, dass er Maske und Brille getragen hat, dazu die inneren Organe." Innere Organe? "Jedenfalls hat ihn heute morgen die Polizei mit der Ambulanz zu uns geschickt. Sie vermuten: Es ist ein Scharfschütze." Aber selbst wenn es so wäre, müsste man nicht auch ein solches Subjekt behandeln? "Ooch, dem geht's gut", heißt es kurz: "Manchmal redet er, auf Tadschikisch."
Dies nun wäre für Osch eine erlösende Perspektive. Die Usbeken sprechen von 700 Toten, sie sprechen von Völkermord, und selbst Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa hält solch hohen Zahlen nicht mehr für abwegig. Hätten aber tatsächlich tadschikische Scharfschützen auf Frauen und Kinder geschossen, dann wären diese Toten nicht Opfer des Rassenhasses zwischen Kirgisen und Usbeken, der geschürt und gelenkt wurde, aber sich doch aus sich selbst speiste. Dann stünde Kirgistan nicht am Rande eines Bürgerkrieges - es wäre von außen unterwandert worden.
Das Krankenhaus in Osch ist dabei noch eine Oase der Versöhnung. Hier liegen Usbeken und Kirgisen nebeneinander, und zur Visite kommen Ärzte beider Völker. Der Eid des Hippokrates verpflichte dazu, sagt der Chirurg Said Satybaldyjew. Dass sich viele Usbeken nicht in die kirgisisch geführten Krankenhäuser wagen, dass man auch aus diesem Grund nicht weiß, wie viele Tote und Verletzte die Hölle der letzten Tage tatsächlich hervorgebracht hat, will er nie gehört haben.
Dann fallen draußen Schüsse. Über der Stadt kreisen Hubschrauber. Die Gewalt lässt sich nur langsam ersticken. Den Hass nicht.
Dabei ist dies der erste ruhigere Tag seit jener verfluchten Nacht am vergangenen Donnerstag, als kirgisische und usbekische Banden übereinander herfielen und alles begann. Der erste Tag, an dem nicht Horden junger Männer durch die Straßen ziehen, der erste Tag ohne Rauchwolken am Himmel, ohne Schießereien und ohne neue Patienten in der Abteilung von Satybaldyjew. Ausgebrannte Autowracks wurden weggeräumt. Und Kompaniechef Kuran Ibraimow sitzt auf einem Schützenpanzerwagen und sagt: "Wir errichten Straßensperren, damit Provokateure nicht in gegnerische Stadtviertel eindringen können." Ibraimow ist 25 und spricht deutsch, seitdem er den Einheitsführerlehrgang der Infanterieschule in Hammelburg und ein Praktikum in Mittenwald gemacht hat. Er gehört zu jenen Truppen, die Übergangspräsidenten Rosa Otunbajewa in die Süden geschickt hat, zu wenige, sagen Militärs in Osch. Zu schlecht ausgebildet, erbärmlich ausgerüstet, sagen Beobachter.
Auf fremde Hilfe aber können weder Otunbajewa noch Ibraimow hoffen -
also muss Kompaniechef Ibraimow selbst die illegalen Waffen einsammeln, die in Osch so zahlreich sind wie in London Regenschirme. Osch liegt auf der Transitroute für die Heroinströme aus Afghanistan nach Russland. Gerade wäre eine Geiselnahme in Osch um ein Haar blutig ausgegangen, weil die Entführer eine Kalaschnikow verlangten, die Angehörigen aber nur Geld boten. Waffen gelten in Osch als härtere Währung. Wer die meisten Waffen hat? Ibraimow überlegt nicht: "Die Usbeken natürlich."