Sexuelle Gewalt:Studie zu Missbrauch im Bistum: Harte Kritik an Lehmann

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Der Rechtsanwalt Ulrich Weber spricht während der Pressekonferenz zu den Ergebnissen der Studie. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Mit scharfen Worten kritisieren die Autoren der Missbrauchsstudie für das Bistum Mainz das Verhalten der katholischen Kirche und früherer Bischöfe wie Lehmann. Bischof Kohlgraf spricht von „Verbrechen“.

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Mainz (dpa/lrs) - Im Bistum Mainz sind jahrzehntelang Fälle von sexueller Gewalt nicht konsequent verfolgt, teils verschwiegen und verharmlost worden - auch zur Zeit des im Bistum und darüber hinaus angesehenen Bischofs Karl Kardinal Lehmann. Das geht aus einer am Freitag von dem unabhängigen Rechtsanwalt Ulrich Weber in Mainz vorgestellten Studie hervor. Bischof Peter Kohlgraf sprach in einer ersten Stellungnahme von „erschreckenden Ergebnissen“ und „Verbrechen“. „Ein ganzes System hat versagt.“

„Die Taten und Vergehen, die mit der Studie an die Öffentlichkeit kommen, gehören genauso wie das Wegsehen und die Unfähigkeit Betroffenen Gehör und Glauben zu schenken, zur Geschichte des Bistums Mainz“, sagte Kohlgraf in seinem knapp neunminütigen Statement. Es sei wichtig, dieses Versagen bei der Bewertung des Lebens von Bischöfen wie Albert Stohr (1945-1961), Hermann Kardinal Volk (1962-1982) und Lehmann (1983-2017), der von 1987 bis 2008 auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war, nicht auszusparen. „So wichtig ihre Verdienste in vielen Bereichen waren, so unmissverständlich haben wir heute Morgen auch gehört: Ihnen war der Schutz von Tätern und Kirche wichtiger als die Not von Betroffenen, auch wenn es in der Amtszeit von Kardinal Lehmann unterschiedliche Phasen des Umgangs gibt.“

Der vom Bistum beauftragte Regensburger Anwalt Weber hatte bei der Vorstellung der Studie gesagt: „Das Bistum als verantwortliche Institution hat durch unangemessenen Umgang und mangelnde Kontrolle in vielen Fällen sexuellen Missbrauch begünstigt.“ Pfarrgemeinden hätten mit einer Solidarisierung mit Beschuldigten und der Diskreditierung von Opfern eine Aufklärung erschwert und weitere Vorfälle ermöglicht.

Im Rahmen der Studie mit dem Titel „Erfahren - Verstehen - Vorsorgen“ (EVV) waren rund 25.000 Seiten an Akten- und Archivmaterial untersucht worden und 246 persönliche, schriftliche oder telefonische Gespräche geführt worden. Nach einer statistischen Analyse waren für den Zeitraum von 1945 bis 2019 zunächst 657 Betroffene und 392 Beschuldigte ausgemacht worden. Dann wurde genauer geprüft, wie sich der jeweilige Tatbestand genau darstellt und wie plausibel der Fall erscheint. Letztlich blieben für die weitere Untersuchung 401 Betroffene und 181 Beschuldigte übrig.

„Ein ganzes System hat versagt“, sagte Kohlgraf. Das habe Weber deutlich gemacht. „Menschen wollten nicht hinschauen, in Familien wollte man nicht glauben oder reagieren, Gemeinden haben relativiert“, sagte der Bischof. „Dahinter steht ein überhöhtes Bild vom Priester als Vater und heiligem Mann. So hat man sich gegenseitig geschützt, wie in einer geschlossenen Gesellschaft.“ Aber auch die Theologie habe teils versagt, „weil sie überhöhte Priesterbilder entwickelt und ausgebaut hat“.

Es gehe um Machtverhältnisse, um Verschweigen, um Relativieren. „Wir reden über ein Verbrechen und nicht über einzelne Skandale oder das Versagen einzelner“, betonte Kohlgraf. „Menschen sind zerstört worden, Glauben und Vertrauen.“ Die Studie sei ein „Meilenstein auf unserem Weg, dieses Thema aus der Tabu-Zone zu holen“, sagte Kohlgraf. Er werde sie jetzt erst genau lesen und am 8. März bei einer Pressekonferenz konkrete Erkenntnisse nennen und Fragen beantworten.

Die Beschuldigten sind der Studie zufolge zu 96 Prozent männlich, rund zwei Drittel seien Kleriker, der Rest Laien. Das Tatspektrum erstrecke sich von einer sexualbezogenen Grenzverletzung bis hin zu besonders schweren Straftaten. 61 Prozent der Missbrauchsfälle dauerten der Studie zufolge länger als ein Jahr. Seien vor 2002 sämtliche Strafanzeigen durch Zeugen oder Betroffenen gestellt worden, sei dies nach 2010 zum überwiegenden Teil durch das Bistum geschehen. Die Folge waren 27 Strafverfahren, acht Haftstrafen wurden verhängt, „davon nur eine für einen Diözesanpriester“.

Von den Betroffenen sind rund 60 Prozent männlich, 72 Prozent der Opfer mussten mehrfache Übergriffe erleiden, überwiegend über ein bis zwei Jahre. Die Opfer waren laut Studie von drei bis 62 Jahre alt, ein Schwerpunkt liege im Kommunionalter bei zehn Jahren, ein weiterer bei „postpubertären Jugendlichen“ mit 14 bis 15 Jahren.

Die Hälfte der Betroffenen wurde Opfer einer schweren oder besonders schweren Straftat. Schwere und besonders schwere Straftaten seien überwiegend bis Anfang der 1990er Jahre verübt worden. Häufig sei es bei Freizeiten oder Reisen, im privaten Umfeld oder im Pfarrhaus zu Taten gekommen, rund jede vierte Meldung von Betroffenen sei erst mehr als 30 Jahre nach dem Vorfall erfolgt. Oft sei die Beziehung zwischen Beschuldigtem und Betroffenen von Macht und Vertrauen geprägt gewesen. „Pädophilie ist nur bei einem geringen Teil der Beschuldigten Ursache für die Taten“, sagte Weber.

Die Zeit unter Kardinal Volk sei ein Schwerpunkt für solche Taten gewesen. Es sei vorrangig darum gegangen, kein öffentliches Ärgernis hervorzurufen. Ein Blick auf das Leid der Betroffenen sei nicht vorhanden gewesen. Lehmann habe den Umgang mit Fällen sexueller Gewalt nie als Chefsache angesehen. Es sei in den Lehmann-Jahren 2010 bis 2017 ein erheblicher Gegensatz zwischen seinem öffentlich-medialen Auftreten und der persönlichen Einstellung und dem persönlichen Handeln erkennbar gewesen. „Seinen mit eigenen Worten formulierten Anspruch für den Umgang mit sexueller Gewalt in der katholischen Kirche im Bistum Mainz hat er selbst zu keiner Zeit erfüllt“, sagte Weber. Unter Bischof Kohlgraf sei der Wille, den Umgang mit sexualisierter Gewalt zur Chefsache zu machen, durchaus erkennbar.

Enttäuscht zeigten sich Weber und Co-Autor Johannes Baumeister über den Rücklauf von Umfragen in Gemeinden und Caritas-Verbänden. Mehr als 40 Prozent der Pfarreien und über 20 Prozent der Pfarrverbände und Pfarrgruppen hätten sich trotz Aufforderung durch das Bistum nicht beteiligt, bei Caritas-Einrichtungen sei der Rücklauf „sehr gering“ gewesen.

Das Bistum Mainz liegt zu etwa zwei Dritteln auf hessischem und zu einem Drittel auf rheinland-pfälzischem Gebiet und zählte zuletzt gut 700.000 Kirchenmitglieder.

© dpa-infocom, dpa:230302-99-805118/7

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