Sexuelle Gewalt gegen Kinder:"Nur Teile eines gewaltigen Abgrunds"

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Eine "Haltung des Hinschauens" fordert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Treffen mit Vertretern des "Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen". (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Im Kampf gegen Kinderpornografie und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sieht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die gesamte Gesellschaft in der Verantwortung. Vor allem in den digitalen Medien erkennt er "Brandbeschleuniger".

Von Peter Fahrenholz, München

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat angesichts der erschütternden Fälle von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen und der stark gestiegenen Verbreitung von Kinderpornografie im Internet eine "Haltung des Hinschauens" gefordert. "Wir alle müssen im Alltag hinschauen, zuhören und nachfragen", sagte Steinmeier bei einem Treffen mit Vertretern des "Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" in Berlin. Der Staat und seine Institutionen, aber auch die gesamte Gesellschaft müssten sich dafür verantwortlich fühlen, Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt zu schützen. "Und wir müssen einschreiten und helfen, sobald es kleinste Hinweise und Verdachtsmomente gibt", fügte er hinzu.

Steinmeier sprach in seiner Rede die "furchtbaren Fälle" von Kindesmissbrauch in Staufen, Lügde, Bergisch Gladbach und Münster an. Die Fälle offenbarten "nur Teile eines gewaltigen Abgrunds, der sich durch die gesamte Gesellschaft zieht". In Deutschland würden jedes Jahr "Tausende Kinder und Jugendliche" Opfer von sexueller Gewalt, "nicht irgendwo fernab, sondern in nächster Nähe, mitten unter uns".

Trotz aller Anstrengungen in Politik und Gesellschaft sei es bisher noch nicht gelungen, das "unvorstellbare Ausmaß sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen zu verringern", beklagte der Bundespräsident. Die Zahl der Missbrauchsdarstellungen im Netz sei im Gegenteil "explodiert", die digitalen Medien wirkten hier "wie ein Brandbeschleuniger".

Um den Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen besser zu koordinieren, war im Dezember 2019 der "Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" ins Leben gerufen worden, in dem auch Betroffene mitarbeiten. Der Nationale Rat hat als eine Art Zwischenergebnis seiner Arbeit eine "Gemeinsame Verständigung" vorgelegt, in der er in fünf Bereichen konkrete Maßnahmen fordert. So müsse man Schutzkonzepte für Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche betreut werden, weiterentwickeln und alle Akteure, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, besser vernetzen, um mögliche Gefahren schneller zu erkennen.

Außerdem plädiert die "Gemeinsame Verständigung" dafür, Gerichtsverfahren kindgerecht zu gestalten. Die Opfer sexueller Gewalt sollten damit "so wenig wie nötig erneut belastet werden", erklärte Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht. Um Minderjährige vor sexueller Ausbeutung im digitalen Raum besser zu schützen, sollen neue Schutzkonzepte erarbeitet und zugleich die "Identifizierung von minderjährigen Betroffenen des Menschenhandels" durch internationale Kooperationen verbessert werden. Darüber hinaus regt der Rat an, die Forschung über sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu verstärken, um mehr Daten über Ausmaß und Erscheinungsformen zu gewinnen.

Der Beauftragte für Fragen des Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, appellierte an die neue Bundesregierung, den Nationalen Rat als "ständigen Think Tank" zu etablieren. Außerdem solle der nächste Bundestag eine Enquetekommission mit dem Auftrag, eine Strategie gegen sexuelle Gewalt im Netz zu erarbeiten, einsetzen und eine Berichtspflicht der oder des Missbrauchsbeauftragten gesetzlich verankern.

Der Bundespräsident forderte in seiner Rede ebenfalls "mehr Forschung", um "die Abgründe unserer Gesellschaft auszuleuchten". Er wies darauf hin, dass sämtliche Anstrengungen, um sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen einzudämmen, nicht zum Nulltarif zu haben sind. "All das kostet auch Geld", sagte Steinmeier ausweislich seines Redemanuskriptes.

Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist die Zahl der registrierten Opfer sexueller Gewalt im vergangenen Jahr erneut gestiegen, auf insgesamt 17 000 Kinder und Jugendliche. Die Dunkelziffer dürfte aber um ein Vielfaches höher liegen. Steinmeier sprach in seiner Rede von Schätzungen, wonach in Deutschland eine Million junge Menschen leben, die sexueller Gewalt ausgesetzt seien oder waren. Auch die Corona-Pandemie hat den Konsum kinderpornografischer Darstellungen im Netz offenbar stark anschwellen lassen. Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 ist er nach Angaben von Europol um 30 Prozent gestiegen.

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