Missbrauch in der katholischen Kirche:Warum nur wenige Täter bestraft werden

Papst Franziskus zu Vertuschung von Missbrauch

Expertenkommissionen sollen die Fälle sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche nun aufklären. Allein die Bildung dieser Runden dauert oft Jahre.

(Foto: Evandro Inetti/dpa)
  • Staatsanwälte haben einen Bericht eingesehen, der interne Akten über sexuellen Missbrauch und Gewalt durch Mitarbeiter der katholischen Kirche auswertet.
  • Daraus ergeben sich allerdings nur sehr wenige aussichtsreiche Strafverfahren. Viele mutmaßliche Täter sind tot, viele Taten verjährt.
  • Noch immer werden von der katholischen Kirche kaum Missbrauchsfälle bei den staatlichen Behörden angezeigt.

Von Nicolas Richter und Ronen Steinke, Berlin

Es war eines der heikelsten Dokumente im Besitz der Kirche, und deswegen gab es davon nur drei Kopien: der Missbrauchsbericht der Erzdiözese München und Freising. Ende 2010 hatte ihn eine Münchner Kanzlei fertiggestellt, sie hatte dafür interne Akten über sexuellen Missbrauch und Gewalt durch Mitarbeiter der Kirche von 1945 bis 2009 ausgewertet. Die Öffentlichkeit erhielt damals eine Zusammenfassung, die systemische Mängel in der Kirche anprangerte. Doch der Originalbericht blieb unter Verschluss; die Diözese erklärt, sie habe damit die Persönlichkeitsrechte von Opfern und Tätern schützen wollen. Es gab nur drei Kopien, eine für den Bischof, eine für den Generalvikar und eine für die Anwälte - alle drei Kopien verschwanden im Tresor. Es hat fast ein Jahrzehnt gedauert, bis sich daran etwas geändert hat: Erst kürzlich hat die Staatsanwaltschaft ein Exemplar des heiklen Reports angefordert - und von der Erzdiözese ausgehändigt bekommen.

Dass sich daraus eine Fülle neuer Ermittlungsverfahren ergibt, ist unwahrscheinlich. Die kirchlichen Archive und Tresore mögen sich öffnen, aber die Justiz kommt zu spät. Viele mutmaßliche Täter sind tot, viele Taten verjährt. Und viele Opfer möchten über das, was ihnen angetan wurde, nicht mehr sprechen. Ein großer Teil des schweren Unrechts, das Kirchenleute verübt haben, wird somit nie vor den Gerichten landen, jedenfalls nicht den irdischen.

Der aktuelle Vorstoß der Justiz geht auf den vergangenen Herbst zurück, als die katholische Kirche ihre "MHG-Studie" zu Missbrauch in deutschen Bistümern veröffentlichte. In Bayern appellierte die Justiz daraufhin an die Bistümer, Namen von mutmaßlichen Tätern zu melden, damit der Missbrauch auch strafrechtlich aufgearbeitet werden konnte. Etliche Bistümer händigten Material aus, die Erzdiözese München und Freising allein fünf Ordner. Ähnlich lief es in anderen Bundesländern.

Die Staatsanwaltschaften in München und Berlin haben das Material inzwischen weitgehend ausgewertet; das Ergebnis ist aus Sicht der Strafverfolger aber ernüchternd. In München, wo es im Missbrauchsbericht der Diözese 2010 hieß, 159 Priester seien auffällig geworden, laufen bei der Staatsanwaltschaft auf Grundlage des neuen Materials nur zwei Verfahren. In Berlin führt die Justiz kein einziges aussichtsreiches Verfahren. Dort heißt es, die Akten seien fast nur von akademischem Interesse, nicht von strafrechtlichem.

Nach Jahrzehnten des Vertuschens, Verheimlichens und Verzögerns durch die Kirche kann die Justiz in den allermeisten Fällen nichts mehr ausrichten. Zwar bekamen die Ermittler in ganz Deutschland im vergangenen Jahr große Mengen an Akten von den Kirchen, aber die Masse täuscht. "Wir hatten einen Kirchenmann dabei, der war 1888 geboren, da brauche ich keine Ermittlungen einzuleiten", sagt Oberstaatsanwältin Ines Karl, Abteilungsleiterin für Sexualstraftaten in Berlin. Natürlich sei es gut, dass nun die Schränke geöffnet würden. Aber viele Unterlagen seien inzwischen juristisch wertlos.

In der Akte eines 1912 geborenen Berliner Kirchenmannes heißt es: "Verfehlung im 6. Gebot"

Es sind teils dicke Personalakten, welche die Ermittler jetzt erstmals einsehen dürfen. Meist sind es eng beschriebene Seiten, in alter Schreibmaschinenschrift, oben auf der Seite prangen Wappen der Bistümer. Manchmal liegen auch private Briefe in Handschrift bei, in denen sich Gemeindemitglieder einst über den Pfarrer oder Kaplan beschwerten. Öfter aber sind es nur Vermerke der Bistümer, teils auf Latein. Viele sind stichpunktartig, und gerade an heiklen Stellen verschwiemelt: Eine "Verfehlung im 6. Gebot" sei begangen worden, so heißt es etwa in der Akte eines 1912 geborenen Berliner Kirchenmannes (das Gebot lautet "Du sollst nicht ehebrechen"). Die Kirche hielt es oft nicht für nötig, explizitere Aufzeichnungen zu machen. Für heutige Staatsanwälte ist das zu vage.

Es fällt auf, dass Annäherungen gegenüber Männern viel öfter an die Kirchenoberen gemeldet wurden als gegenüber Frauen. Da spiele in manchen Fällen auch Homophobie eine Rolle, vermutet die Berliner Oberstaatsanwältin Ines Karl. "Trifft sich mit jungen Männern, Alter 20-22 Jahre", heißt es etwa in der Personalakte eines Kaplans. Aus Sicht der heutigen Justiz ist das aber nicht illegal; solange es einvernehmlich und zwischen Volljährigen war.

„Keine Strategie“

Die katholischen Bischöfe und Harald Dreßing, der Leiter der MHG-Studie zur sexuellen Gewalt in der katholischen Kirche, streiten darüber, wie konsequent die Aufklärung des Missbrauchs vorangetrieben wird. Dreßing kritisierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, er könne "bisher keine gemeinsame Strategie" der Bischöfe bei der weiteren Erforschung der Gewalt und der Konsequenzen daraus erkennen. Die Aufarbeitung müsse "überregional erfolgen, nach einheitlichen Standards und unter Einbeziehung der Betroffenen"; dabei müssten auch Verantwortliche benannt werden, die "in Amt und Würden sind". Bischofskonferenz-Sprecher Matthias Kopp wies den Vorwurf zurück: Nach Erscheinen der MHG-Studie habe man einen Maßnahmenkatalog beschlossen, der "kontinuierlich bearbeitet" werde. Matthias Dobrinski

Natürlich gibt es keine Garantie, dass die Kirche wirklich alle Akten herzeigt, und etliche Übergriffe sind wohl noch nicht einmal protokolliert worden. "Ich bin auch nicht naiv", sagt die Ermittlerin Ines Karl, natürlich könnten Dinge zurückgehalten werden. Trotzdem haben nirgends in Deutschland Staatsanwälte selbst Archive der Kirche aufgesucht. 2011 haben sie überall das Gespräch mit den Bistümern aufgenommen, dann aber geduldig darauf gewartet, dass die Anwälte der Kirchen eigene Recherchen anstellen. Über eine Hausdurchsuchung habe man durchaus mal nachgedacht, sagt ein Oberstaatsanwalt in Norddeutschland. Aber es wäre sinnlos gewesen, meint er, wenn man bedenke, über wie viele Liegenschaften die Kirche verfügt. "Wenn man da wirklich etwas verstecken will, findet das keiner."

In der Münchner Justiz war man 2010 der Meinung, man könne den vertraulichen Missbrauchsbericht des Erzbistums gar nicht beschlagnahmen lassen. Es fehle nämlich ein konkreter Anfangsverdacht gegen eine bestimmte Person. Ohne den, meinten die Ermittler, hätten sie nicht loslegen dürfen. Einen besseren Weg, als auf die freiwillige Kooperation der Kirche zu setzen, gibt es nicht, sagen viele Staatsanwälte. Zwingen könne man die Kirche zu nichts, es gilt keine generelle Pflicht zur Anzeige von Sexualdelikten. Nach den internen Leitlinien der katholischen Bischofskonferenz sollen zwar seit 2013 Verdachtsmomente für solche Straftaten immer "an die staatliche Strafverfolgungsbehörde" weitergeleitet werden, es sei denn, das Opfer widerspricht. Aber zumindest in Berlin hat die Justiz noch keine Veränderung festgestellt. "Die Kirche zeigt nicht an", sagt Oberstaatsanwältin Ines Karl, "vielleicht wird das nicht ernst genommen." Das Erzbistum München und Freising weist darauf hin, dass es seit 2011 insgesamt zehn Strafanzeigen gestellt hat - gegen einen Kleriker sowie diverse Mitarbeiter, darunter Lehrer.

Seit den 1970ern dringt kaum etwas nach außen

Die Hoffnung ruht jetzt vor allem auf den Opfern. Wenn man die Akten aus den 1950er- und 1960er-Jahren durchblättert, fällt auf, dass damals mehr Opfer bereit waren zu reden, Jugendliche traten als Zeugen auf, Kirchenleute wurden zu Haftstrafen verurteilt. Später ließ die Anzeigebereitschaft nach, von den 1970er-Jahren an drang kaum mehr etwas nach außen, es sei "offenbar so ein Deckel draufgegangen", sagt Ines Karl. Hinter jedem der heute unaufgeklärten Fälle stehe auch ein Opfer, das schweigt. Aus Scham - oder aus Ehrfurcht vor der Institution Kirche.

Etwas sei da in den 1970er-Jahren geschehen, womöglich hätten die Täter damals gemerkt, dass sie ein Problem mit der Justiz bekommen könnten. "Es gibt viele Möglichkeiten, Opfer manipulativ stärker einzubinden, Loyalitäten zu schaffen, um Taten besser unter den Teppich zu kehren", sagt Karl. Umso wichtiger sei es heute, den Opfern, die ihr Schweigen brechen, Anerkennung auszusprechen. Indem sie Namen und Details nennen, können sie verhindern, dass Täter unbehelligt weitermachen. Oder dass die Strukturen ungehindert weiter funktionieren. "Das zu überwinden, dafür braucht es den Mut der Opfer. Das ist viel ergiebiger als Akten."

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