Krise in Zentralasien:"Alter Mann, geh weg"

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Bei den Unruhen in Almaty ging unter anderem der Sitz der Stadtverwaltung Büro des Bürgermeisters in Flammen auf. (Foto: Valery Sharifulin/Imago/ITAR-TASS)

Es gab schon früher Proteste in Kasachstan, doch diesmal geht es um mehr als um wirtschaftliche Not. Es geht um Ex-Präsident Nasarbajew und sein ganzes System. Sein Nachfolger setzt nun auf russische Soldaten.

Von Silke Bigalke, München

Das Symbol-Bild für diesen Protest steht bereits fest, oder besser gesagt, es liegt am Boden: In Kasachstan haben wütende Demonstranten den einst übermächtigen Staatschef Nursultan Nasarbajew gestürzt, haben eine Bronzestatue ihres "Führers der Nation" mit Seilen vom Sockel gezogen. So lag sie am Mittwochabend da, zerbrochen auf dem nassen Asphalt in Taldykorgan, nördlich von Almaty.

Seit dem Neujahrstag halten die Proteste an und unterscheiden sich deutlich von früheren Unruhen in Kasachstan, nicht nur weil sie sich diesmal über mehrere Städte und Regionen erstrecken. Sie fallen gewaltsamer aus als in früheren Jahren, mehr als 1000 Menschen sollen verletzt worden sein, Dutzende umgekommen, darunter 18 Polizisten - nach offiziellen Angaben.

Es geht den Demonstrierenden auch längst nicht mehr um die Flüssiggaspreise. Die waren im Januar plötzlich so viel höher als im alten Jahr, dass der Ärger darüber die Proteste zwar auslöste. Nun aber rufen die Menschen auf der Straße nach etwas viel Grundsätzlicherem: "Schal, ket!" skandieren sie, "alter Mann, geh weg". Sie meinen damit nicht nur Langzeitmachthaber Nasarbajew, der vor knapp drei Jahren offiziell als Präsident zurückgetreten ist. Sie protestieren gegen ein System, das Nasarbajew in 29 Jahren Herrschaft aufgebaut hat. Bis heute garantiert es ihm und seiner Familie Reichtum und Einfluss.

Unruhen in Zentralasien
:Russland schickt Fallschirmjäger nach Kasachstan

Die Soldaten gehören zu "Friedenstruppen" eines von Russland geführten Militärbündnisses - Kasachstan hat um ihren Einsatz gebeten. Dort haben hohe Gaspreise zu schweren Ausschreitungen geführt.

Damit erinnern die Protestrufe in dem zentralasiatischen Land nun fast an die Massendemonstration in Belarus 2020, einer anderen früheren Sowjetrepublik. Während die Belarussen monatelang friedlich gegen Diktator Alexander Lukaschenko demonstrierten, eskalierte in Kasachstan die Gewalt binnen weniger Tage. In der Millionenstadt Almaty, der früheren Hauptstadt, zündeten Protestierende die Stadtverwaltung an, verwüsteten den Flughafen, plünderten Banken. In den vergangenen Tagen funktionierte das Internet in weiten Teilen des Landes häufig nicht, kasachische Medien waren nicht abrufbar, die Lage blieb unklar.

Angeblich wurde sogar das Gebäude des Inlandsgeheimdienstes geplündert

In den sozialen Medien kursieren dafür Videos, sie zeigen Rauchwolken über Almaty, brennende Gebäude und Autos, zerbrochene Fensterscheiben, Straßenbarrikaden. Berichten zufolge drang eine Gruppe sogar in das Gebäude des Inlandsgeheimdienstes KNB ein, nahm Waffen von dort mit. Ein Video zeigt Männer, die in Kisten und Uniformen zwischen leeren Regalen wühlen, einer trägt eine Granate. Andere Aufnahmen zeigen, wie Gewehre an Protestierende auf der Straße verteilt werden.

Anfangs versuchte Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew, Nasarbajews handverlesener Nachfolger, noch zu beschwichtigen. Er ordnete an, die Preise für Flüssiggas (LPG) wieder zu senken. Als das nicht half, verhängte er den Ausnahmezustand über Almaty und andere Regionen. Er ließ die Regierung zurücktreten, auf die es in der zentralasiatischen Autokratie ohnehin kaum ankommt. Alles vergeblich. Dann drohte er, er werde so "hart wie möglich" reagieren.

In der Nacht auf Donnerstag soll es in Almaty zu Schusswechseln zwischen Soldaten und Protestierenden gekommen sein, berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass. Auf mehreren Videos aus der Nacht waren Maschinengewehrsalven zu hören. Die Polizei sprach von "extremistischen Kräften", Dutzende Angreifer seien "eliminiert" worden, zitierten sie mehrere russische Medien. Am Morgen dominierten Bilder von Soldaten in den Straßen von Almaty, auch tagsüber soll in der Stadt noch geschossen worden sein. Geschäfte blieben geschlossen, weder Nahrungsmittel noch Geld oder Benzin waren zu bekommen.

Präsident Tokajew änderte seinen Ton von einer Fernsehansprache zur nächsten. Er nennt die Protestierenden inzwischen "internationale Terroristen", vermutlich seien sie im Ausland ausgebildet worden. Die Proteste deutet er so in einen Angriff von außen um. Eine Methode, der sich auch Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko immer wieder bedient hat, um sich Moskaus Hilfe zu versichern.

Um die bat nun auch Tokajew in der kasachischen Hauptstadt Nursultan: Kasachstan ist, wie etwa auch Belarus und Armenien, Mitglied in der von Moskau angeführten "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS). Der Kreml schickt nun sogenannte Friedenstruppen, Russlands Staatsfernsehen zeigte bereits Bilder von Fallschirmjägern auf dem Weg nach Kasachstan. Es ist das erste Mal, dass das Bündnis eingreift, um einen innenpolitischen Protest unter Kontrolle zu bringen. Möglicherweise fürchtet Tokajew, dass sich Militär und Geheimdienst gegen ihn stellen könnten. Mit seinen Soldaten schickt Moskau auch das Zeichen, dass es den Machthaber unterstützt.

Tokajew hat noch etwas Bemerkenswertes getan: Er übernahm den Vorsitz des mächtigen Sicherheitsrats in Kasachstan. Den besetzte bisher noch der alte Präsident Nasarbajew. Als dieser das Präsidentenamt 2019 an Tokajew übergab, werteten das viele als taktischen Rückzug eines überalterten Regimes. Nasarbajew wollte seine Macht nicht abgeben, sondern konservieren und als praktisch unantastbar gewordener "Führer der Nation" aus dem Hintergrund die Geschicke des Landes lenken. Seine Taktik ist unter Beobachtern häufig diskutiert worden als möglicher Ausweg für andere Langzeitautokraten wie Lukaschenko und Wladimir Putin.

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Tokajew gilt als Getreuer Nasarbajews, nannte Kasachstans Hauptstadt ihm zu Ehren in Nursultan um. Doch in den vergangenen Tagen hat Tokajew vieles verändert, hat hohe Beamte ausgetauscht. Während Nasarbajew sich bisher nicht zu den Protesten geäußert hat, stellte Tokajew klar: Er werde bis zum bitteren Ende in der Hauptstadt bleiben. Folgt dem vorgegaukelten Machttransfer nun ein tatsächlicher? Bisher gibt es darauf keine Antworten.

Die Wut der Menschen kann Tokajew vermutlich nicht durch Personalien befrieden. Zwar gab es nach dem inszenierten Machtwechsel 2019 wiederholt Proteste in Kasachstan, forderten die Menschen demokratische Wahlen. Bisher hat der Machtapparat das Aufbegehren der Menschen stets niederschlagen können und ging rigoros gegen Aktivisten vor, vor allem in Almaty.

Der Wunsch nach Mitspracherecht fällt zusammen mit wirtschaftlichen Nöten

Diesmal aber haben die Proteste im Westen des Landes begonnen, in der Stadt Schangaösen. Viele Menschen dort arbeiten in der Erdöl- und Gasindustrie. Seit Jahren brechen in der Region immer wieder Streiks aus, weil die Leute schlecht bezahlt werden für eine gefährliche, gesundheitsschädliche Arbeit. Vor zehn Jahren endete ein Streik nach Massenentlassungen in wütenden Protesten. Damals starben mindestens 16 Menschen.

Die Erdölarbeiter tanken Flüssiggas, wie viele Kasachen. Zu Jahresanfang mussten sie in der ölreichen Region plötzlich 120 Tenge pro Liter zahlen, das sind etwa 24 Cent und mehr als doppelt so viel wie der durchschnittliche Preis 2021. Die Regierung hatte das LPG für Kasachen bisher subventioniert, diese Politik nun aber schrittweise zurückgenommen.

Kasachstan ist kein armes Land. Doch während die Familie Nasarbajew sagenhaft reich geworden ist, bleibt vielen Kasachen bei stagnierender Wirtschaft und steigenden Preisen immer weniger zum Leben. Nun fällt der Wunsch nach Mitspracherecht zusammen mit wirtschaftlichen Nöten - genau das lässt die Proteste wachsen.

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