Der "Islamische Staat" sei weder islamisch, noch sei er ein Staat, erklärte Barack Obama, als er am 10. September seine Strategie im Kampf gegen diese Organisation darlegte. Der amerikanische Präsident dürfte gesagt haben, was die große Mehrheit der Muslime denkt. Aber er hat, fürchte ich, nicht ganz recht.
Die Organisation, die sich heute "Islamischer Staat" nennt, entstand als irakischer Ableger von al-Qaida. Sie firmierte zeitweise als al-Qaida in Mesopotamien, dann als "Islamischer Staat im Irak". Sie nutzte den syrischen Bürgerkrieg, um dorthin zu expandieren und nannte sich daraufhin "Islamischer Staat im Irak und in der Levante". Seit der Eroberung Mossuls im Juni 2014 nennt die Organisation sich nur noch "Islamischer Staat". Ihr Führer, Abu Bakr al-Baghdadi, propagiert die Wiedererrichtung des Kalifats und hat sich selbst zum Kalifen ernannt, zum geistigen und politischen Führer aller Muslime.
Der "Islamische Staat" (IS) ist also nicht einfach nur eine "Terrormiliz". Diese in den Medien verbreitete Charakterisierung ist eher eine Verharmlosung. Richtiger wäre es, von einem dschihadistischen Staatsbildungsprojekt zu sprechen. Dschihadismus bezeichnet jene extremistische Denkart im Islam, die wir von al-Qaida und ähnlichen Gruppen kennen: eine Ideologie, die abweichend von den wichtigsten islamischen Rechtsschulen auf einen zeitlich und räumlich unbegrenzten Krieg gegen alle Nicht- oder Andersgläubigen setzt und diesen zur Glaubenspflicht erklärt.
Totalitäres, expansives und hegemoniales Projekt
Die Bezeichnung "Terrormiliz" für den Islamischen Staat sei eine Verharmlosung, sagt der Politologe Volker Perthes.
(Foto: oh)Tatsächlich haben wir es mit einem Herrschaftsverband zu tun, der derzeit je etwa ein Drittel Syriens und des Irak kontrolliert. Hier leben bis zu acht Millionen Menschen, und hier übt der IS quasistaatliche Funktionen aus. Er betreibt seine eigene Justiz, die sich an den extremistischsten islamischen Rechtsvorstellungen orientiert, er erhebt Steuern, rekrutiert Soldaten, fördert und exportiert Öl. Er hält auch die Versorgung von Märkten und die Stromversorgung aufrecht.
Der "Islamische Staat" ist dabei ein totalitäres, expansives und hegemoniales Projekt. So erklärt der IS sich zum Staat der Rechtgläubigen und behauptet, dass es nur eine zulässige Auslegung der Glaubensgrundsätze gebe. Muslime, die anders denken oder zu anderen Konfessionen gehören, werden zu Ungläubigen erklärt; Andersgläubige werden allenfalls gegen Schutzgeldzahlung geduldet. Der Verzicht des "Islamischen Staates" auf den geografischen Zusatz "im Irak und in der Levante" unterstreicht die Absicht, über diese Grenzen hinaus zu expandieren. Im Unterschied zu anderen Staatsbildungsprojekten wird der "Islamische Staat" sich auch nicht um diplomatische Anerkennung oder die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen bemühen: Er lehnt das internationale Staatensystem schlicht ab. Abu Bakr al-Baghdadi hat mit seiner Selbsternennung zum Kalifen zudem explizit den Anspruch auf die Gefolgschaft aller Muslime in der Welt erhoben. In der Realität folgen ihm nur einige kleinere Terrorgruppen, in Pakistan zum Beispiel.
Der "Islamische Staat" bedroht die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschen in der Region. Er bedroht aber auch unsere europäischen und deutschen Sicherheitsinteressen. Eine weitere Expansion des IS würde unmittelbar die kurdische Autonomieregion im Nordirak, weitere Teile Syriens, Libanon und Jordanien gefährden. Saudi-Arabien ist eher durch die Sympathien bedroht, die der IS in der saudischen Bevölkerung genießt, als durch einen möglichen Vormarsch von IS-Kämpfern. Neue Eroberungen des IS würden weitere und größere Flüchtlingswellen auslösen und Staaten wie Jordanien, Libanon oder die Türkei noch stärker belasten als ohnehin schon. Und solange der IS Erfolg vorweisen kann, wird er mehr dschihadistische Nachwuchskräfte auch aus Europa, Russland und anderen Ländern rekrutieren, von denen einige später in ihre Heimat zurückkehren werden.