Antisemitismus:Juden leben im "Ausnahmezustand"

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Felix Klein (2. v. r.), Beauftragter für jüdisches Leben in Deutschland, möchte die schwierige Lage heute aber nicht mit den Pogromen von 1938 vergleichen. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung ist bestürzt angesichts des offenen Judenhasses seit Beginn des Nahost-Krieges. Experten warnen, die extreme Rechte wolle die deutsche Geschichte umschreiben.

Vor dem 85. Jahrestag der antijüdischen Pogrome vom 9. November 1938 hat sich der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, bestürzt über die aktuelle Lage im Land geäußert. "Was wir seit dem 7. Oktober sehen, ist Judenhass auf einem in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr da gewesenen Niveau", sagte er am Dienstag in Berlin mit Blick auf antisemitische Vorfälle etwa bei Demonstrationen nach dem Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel. Anlass war die Vorstellung eines von der Amadeu-Antonio-Stiftung erstellten "Zivilgesellschaftlichen Lagebilds Antisemitismus". Darin geht es schwerpunktmäßig um Antisemitismus von rechts und Angriffe auf Gedenkstätten und Erinnerungsorte.

Expertinnen und Experten warnten bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Klein davor, angesichts der aktuellen Vorfälle dieses Problem aus den Augen zu verlieren. Ziel der extremen Rechten sei es, die deutsche Geschichte umzuschreiben. "Orte des Gedenkens und des Erinnerns werden geschändet und zerstört. Es wird versucht, das Erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus zu erschweren oder zu unterbinden", heißt es in dem 24-seitigen Papier. Diese Angriffe seien schuld daran, dass die Gedenkkultur in Deutschland Risse bekomme.

Konsens der Erinnerung an die Nazi-Zeit sei fragil wie lange nicht mehr

Der Antisemitismusbeauftragte kritisierte, Deutschland habe sich zu lange ausgeruht und selbst gelobt für seine Erinnerungskultur. Wissen über den Holocaust müsse immer wieder neu erarbeitet werden. Der aktuelle Fokus auf Antisemitismus bei Muslimen dürfe nicht vom Antisemitismus in der Mitte der Bevölkerung ablenken, sagte die Rechtsextremismusforscherin Beate Küpper. Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, warnte, die "Erinnerungsabwehr" sei längst vom rechten Rand in die bürgerliche Mitte gewandert. "Wir können also keinesfalls von einem erinnerungskulturellen Konsens sprechen. Dieser ist in weiten Teilen der Gesellschaft so fragil wie schon lange nicht mehr."

Jüdinnen und Juden in Deutschland befänden sich seit einem Monat im Ausnahmezustand, sagte Klein mit Blick auf die aktuelle Situation. An späterer Stelle versicherte er: Es sei aber nicht das Jahr 1938. "Das Gift des Antisemitismus existiert zwar noch immer, es zeigt sich gerade jetzt besonders stark. Aber im Jahr 2023 leben wir in einer gefestigten Demokratie mit einem Rechtsstaat, der sich schützt und verteidigt."

Bei den Pogromen zwischen dem 7. und 13. November 1938 im damaligen Reichsgebiet wurden nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 400 und 1300 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben. Mehr als 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Etwa 30 000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt.

Der Bundespräsident erläutert die Grenzen der Versammlungsfreiheit

Vielerorts wird am Donnerstag in Berlin an diese November-Pogrome erinnert. Die zentrale Gedenkveranstaltung findet am Vormittag in der kurz nach Wiederaufflammen des Nahost-Konflikts attackierten Synagoge in der Brunnenstraße statt. Eingeladen dazu hat der Zentralrat der Juden in Deutschland. Außer dessen Präsident Josef Schuster wollen daran auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) teilnehmen.

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Auch Steinmeier hat seine Sorge über antisemitische Entwicklungen in Deutschland erneuert. Seit dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel sei auf deutschen Straßen ein Demonstrationsgeschehen zu beobachten, das sich in einigen Fällen jenseits der Grenzen bewege, die vom Recht auf Versammlungsfreiheit gedeckt seien, sagte Steinmeier am Dienstag bei einem Unternehmensbesuch in Erlangen. Wo aus Versammlungen heraus zur Volksverhetzung aufgerufen werde oder diese sogar in der Versammlung selbst praktiziert werde, dürfe dies nicht toleriert werden. "Das ist nicht Wahrnehmung von Freiheit, das ist eine Aktivität jenseits von Freiheit", sagte Steinmeier.

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