Janusz Reiter zum Stauffenberg-Attentat:"Deutsche Widerstandskämpfer verachteten Polen"

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In seiner Rede zum 68-jährigen Jubiläum des Stauffenberg-Attentats auf Hitler stellt Polens Ex-Botschafter Janusz Reiter eine provokante Frage: Warum tun sich viele Polen schwer mit dem Thema deutscher Widerstand? Seine Antwort: Weil sich viele Widerstandskämpfer mit Polen schwer getan haben.

Die Rede im Wortlaut

Es ist der schwierigste Redeauftrag, den ich je angenommen habe. Und doch bin ich dankbar für ihn. Ich betrachte ihn als ein Zeichen, dass das polnisch-deutsche Verhältnis reif dafür ist, auch über dieses schwierige, komplexe Thema miteinander zu sprechen. Es ist eins von den Themen, von denen Nationen oft glauben, dass sie sehr "intim" und Anderen, Fremden, unzugänglich seien. Es kommt möglicherweise noch die Sorge hinzu, dass sich Andere mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte schwer tun könnten.

Janusz Reiter spricht beim Gedenken zum 20. Juli 1944 im Berliner Bendlerblock. (Foto: dpa)

Ja, ich will gar nicht leugnen, dass auch ich mich diesem Thema vorsichtig zögernd angenähert habe und meine Distanz unter anderem überwinden konnte, weil ich das Glück hatte, Menschen zu begegnen, für die der deutsche Widerstand ein Teil ihrer Familiengeschichte ist wie Jan von Haeften, den Sohn von Hans Bernd von Haeften. Und auch Fritz Stern, der hier vor zwei Jahren gesprochen hat, hat mir Mut gemacht, sich dieser Aufgabe zu stellen.

Sie mögen sich fragen, warum ich mich - wie viele in Polen - mit diesem Thema schwer getan habe. Die einfachste und ehrlichste Antwort lautet: Weil sich auch viele, vielleicht die meisten Angehörigen der deutschen Widerstandsgruppen mit Polen schwer getan haben. Die Frage, die ich mir stellen musste, war, ob ich dieses zum wichtigsten Maßstab meiner Einschätzung der Männer und Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus erklären kann?

Nein, das wäre verkürzt und ungerecht. Nicht nur, weil es doch rühmliche Ausnahmen gab. Wenn ich erkenne, dass die Menschen des deutschen Widerstands, ob Einzeltäter wie der Tischler Georg Elser oder die Gruppe Weiße Rose, der Kreisauer Kreis und die Rote Kapelle, die kirchliche Opposition und selbstverständlich die am Umsturzversuch des 20. Juli 1944 Beteiligten, Respekt verdienen, dann nicht etwa weil sie schon immer auf der richtigen Seite gestanden haben und makellos waren, sondern weil sie den Mut hatten, dem Unrechtsregime zu widerstehen. Und ich denke auch an Menschen wie Berthold Beitz, die nicht im organisierten Widerstand waren, aber hunderte von Juden und Christen in Polen gerettet haben.

Wir würdigen die Widerständler heute also nicht, weil sie immer recht hatten, sondern weil sie sich entschlossen, gegen den übermächtigen Strom ihrer Zeit zu gehen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Und auch wenn wir heute wissen, dass sie und nicht die Mehrheit in die richtige Richtung gingen, wie viele wussten das damals? Und wie viele zogen die Konsequenz, dass wissen nicht genug war, dass man etwas tun musste? Wer diese Konsequenz zog, war zur Einsamkeit im eigenen Volk verurteilt. Das ist der Preis, den die meisten Gegner von Diktaturen zahlen müssen. Und diese Gegner des "Dritten Reichs" hatten es mit einer besonders "erfolgreichen", erschreckend populären Diktatur zu tun, die auch ihre Niederlagen dafür zu nutzen wusste, die Bevölkerung auf ihrer Seite zu halten.

20. Juli 1944
:Attentat auf Hitler

Claus Schenk Graf von Stauffenberg versuchte, den Diktator Adolf Hitler mit einer Bombe zu töten - Attentat und Putschversuch misslangen. Ein Rückblick in Bildern.

Ihr Widerspruch blieb zunächst politisch folgenlos, er war aber niemals sinnlos. Auch in der polnischen Geschichte gibt es gescheiterte oder gar hoffnungslose Auflehnungen, die man doch in dem nationalen Gedächtnis pflegt. Effizienz ist eben nicht das höchste Kriterium der Beurteilung von menschlichem Handeln. Wir wissen heute, dass die Mitverschworenen selbst Zweifel hatten, ob ihre Tat Erfolg haben würde. Die meisten verstanden, dass sie politisch kaum noch etwas bewegen konnten. Dafür war es zu spät. Manche, wie Helmuth James Graf von Moltke und Dietrich Bonhoeffer, waren seit langem zutiefst überzeugt, dass erst eine Niederlage Deutschlands seine innere Befreiung und Erneuerung möglich machen würde.

20. Juli 1944
:Attentat auf Hitler

Claus Schenk Graf von Stauffenberg versuchte, den Diktator Adolf Hitler mit einer Bombe zu töten - Attentat und Putschversuch misslangen. Ein Rückblick in Bildern.

Es war auch zu spät, um die Ehre Deutschlands zu retten. Die war bereits verloren. Die heldenhafte Tat einer kleinen Gruppe von Menschen konnte Deutschland nicht von der Schande der nationalsozialistischen Verbrechen reinigen. Diese Chance bot sich erst später, Jahre nach dem Ende des Krieges, nach dem Zusammenbruch Deutschlands. Erst dann konnte der gescheiterte Widerstand seine tiefe Bedeutung offenbaren: als eine Quelle moralischer Legitimation des neuen, demokratischen Deutschland. Erst dann trug er dazu bei, dass Deutschland sich wandeln konnte, ein besseres Land, eine bessere Gesellschaft wurde und auch seine Ehre wiedererlangte.

Vielen Angehörigen des militärischen Widerstands wurde vorgeworfen, dass ihnen die Tatkraft gefehlt habe, dass sie zögernd und entscheidungsunfähig gewesen seien. Preußische Offiziere waren eben in der Regel keine talentierten Verschwörer.

Umso eindrucksvoller ist der Gewissensernst und die Charakterstärke dieser Männer und auch der Frauen, die hinter ihnen standen. Das Schicksal Ewald Heinrich von Kleists, der sich bereit erklärte, sein Leben zu opfern und seines Vaters Ewald von Kleist-Schmenzin, der sein Leben tatsächlich opferte, wie die Süddeutsche Zeitung vor kurzem in Erinnerung rief, ist von geradezu biblischer Dramatik. Es wirft die Frage auf: Aus welcher Tradition schöpften diese Männer die Kraft zu solchen Entschlüssen?

Man findet bei den deutschen Oppositionellen das ganze Spektrum von politischen und weltanschaulichen Standpunkten. Sie waren Kinder ihrer Zeit, auch wenn manche, wie von Moltke, der Zeit voraus waren. Das Weltbild vieler, vor allem der Konservativen und der militärischen Widerstandskämpfer, erscheint uns heute fremd, unverständlich oder gar schockierend. Keine perfekten Helden, ganz gewiss. Oft Menschen voller Widersprüche, so wie ihre Epoche insgesamt voller Widersprüche war.

Wie geht man mit solchen historischen Figuren um? Verdienen antisemitische Judenretter, und solche gab es im besetzten Europa, unseren Respekt? Ja, sie verdienen eine kritische Würdigung. Mündige Bürger brauchen keine Angst davor zu haben, sich mit wichtigen Figuren ihrer Geschichte kritisch auseinander zu setzen, anstatt sie aus der Distanz zu bewundern. In Zeiten der totalitären, diktatorischen Herrschaft entsprechen menschliche Lebensläufe nur selten dem Schönheitsideal von gotischen Kathedralen. Jeder, der in einer Diktatur gelebt hat, weiß das. Für die Angehörigen des deutschen Widerstands galt das auch.

So ist es bekannt, dass viele unter ihnen unfähig waren, sich von den traditionellen antisemitischen Vorurteilen zu lösen. Die meisten Angehörigen des Widerstands standen auch in der preußisch-wilhelminischen Tradition der Verachtung für Polen und andere slawische Völker. Mit Unverständnis und Befremden liest man heute die oft zitierte Passage aus einem Brief von Stauffenbergs an seine Frau aus Polen im September 1939: Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun".

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Über die gleiche Zeit des Polenfeldzuges schreibt Joachim Fest: "Die Vorgänge in Polen gehören zur Geschichte des Widerstands, weil sie die Bedeutung einfacher moralischer Maßstäbe sichtbar machten und erkennen ließen, ob sie schwerer wogen als die traditionellen Begriffe, von denen die soldatische Welt eng umstellt war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt jedenfalls verfiel das Recht auf Irrtum über den Charakter des Regimes... Womöglich noch wichtiger war, dass der Widerspruch gegen das Regime seither nicht mehr allein mit Hitlers außenpolitischem Vabanquespiel und seiner Inkaufnahme übergroßer militärischer Risiken begründet werden konnte, sondern ein elementares moralisches Motiv besaß."

Steht das, was Fest schreibt, nicht in einem krassen Widerspruch zu Stauffenbergs Brief? Ja, aber das ist genau einer der Widersprüche, auf die wir immer wieder stoßen, wenn wir uns mit dem deutschen Widerstand, insbesondere dem militärischen, auseinandersetzen. Die Ablehnung des Verbrechens schloss die Verachtung für die Opfer des Verbrechens nicht aus. Und mehr noch, die Stimme des Gewissens wurde meistens schnell zum Schweigen gebracht. Die Faszination des militärischen Erfolgs erwies sich als stärker. Der September 1939 markiert den militärischen Triumph und den Beginn der moralischen Niederlage der Wehrmacht.

Das Phänomen des deutschen Widerstands hat viele Menschen in Polen schon sehr früh fasziniert. Bereits 1965 schrieben die katholischen Bischöfe in ihrem Brief an die deutschen Amtsbrüder, eine der mutigsten Versöhnungsgesten in der neueren Geschichte Europas, folgende Worte: "Wir wissen sehr wohl, wie ganz große Teile der deutschen Bevölkerung jahrelang unter übermenschlichem, nationalsozialistischem Gewissensdruck standen, wir kennen die furchtbaren inneren Nöte, denen seinerzeit rechtschaffene und verantwortungsvolle deutsche Bischöfe ausgesetzt waren, um nur die Namen Kardinal von Faulhaber, von Galen, von Preysing zu erwähnen. Wir wissen um die Märtyrer der Weißen Rose, der Widerstandskämpfer des 20. Juli, wir wissen, dass viele Laien und Priester ihr Leben opferten /.../ Tausende von Deutschen teilten als Christen und Kommunisten das Los unserer polnischen Bürger".

Fünf Jahre später erschien das Buch von Anna Morawska "Christ im Dritten Reich" über Dietrich Bonhoeffer, in dem die Autorin nicht nur den großen Theologen porträtierte, sondern das Ringen und die Dilemmata der deutschen Hitlergegner analysierte. Das Buch wurde zu einer Schlüssellektüre für die kritischen katholischen Intellektuellen. Tadeusz Mazowiecki, 1989 der erste Ministerpräsident des demokratischen Polen, schrieb eine ausführliche, enthusiastische Rezension.

In diesem Geist setzte sich auch Stefan Niesiolowski mit dem deutschen Widerstand auseinander. Er schrieb bereits in den 1970er Jahren seine ersten Essays über den deutschen Widerstand. Ein Intellektueller, aber auch einer der mutigsten polnischen Oppositionelle, heute ein Mitglied des polnischen Parlaments, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses. Er ist hier bei uns.

Was die deutsche Hitler-Opposition in Polen nach 1945 interessant machte, war nicht ihre politische Rolle im engeren Sinne. Der Vergleich mit dem polnischen Untergrundstaat hatte wenig Sinn, dieser war gut organisiert und in der Bevölkerung tief verankert. Im Mittelpunkt des Interesses der polnischen Intellektuellen stand immer der Einzelne in der totalitären Diktatur mit seinen Gewissensnöten, seiner ethischen Verantwortung. So einmalig die Situation im "Dritten Reich" war, den oppositionellen Intellektuellen in dem damaligen Polen war diese Art von moralischen Problemen wohl vertraut. Und da viele von ihnen engagierte Christen waren, galt ihr besonderes Interesse den Christen in Deutschland, unter denen Dietrich Bonhoeffer die faszinierendste Figur war.

Von den Nazis kurz vor Kriegsende ermordet: Dietrich Bonhoeffer (Foto: Scherl SZ Photo)

Das entscheidend Neue an den Aufsätzen von Morawska, Mazowiecki und auch Niesiolowski waren nicht die Darstellungen der historischen Erkenntnisse, sondern das Deutungsmuster. "Die Frage" - so schrieb Mazowiecki 1971 - "warum das Christentum in Deutschland des Dritten Reiches versagte, könnte man mit einer scheinbar einfachen und teilweise wahren, wenn auch unvollständigen Erklärung beantworten: Dieses Christentum teilte das Schicksal mit der Realität, in der es wurzelte /.../ Es geht hier aber nicht nur darum, warum es politisch, sondern auch, warum es moralisch versagte /.../, warum das Christentum und seine Kirchen kein ausreichendes moralisches Gegengewicht darstellten".

Und er fährt fort : "Es ist dies eine Gewissensfrage für die Christen in Deutschland und für die Christen überhaupt". Für die Christen überhaupt, d.h. für Menschen nicht nur in Deutschland, sondern überall. Mazowiecki so wie Morawska lehnen damit das traditionelle und damals offizielle Deutungsmuster ab, der Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen sei ein "typisches Produkt der deutschen Geschichte", das woanders unmöglich sei und deshalb für andere keine Konsequenzen habe.

Dabei wussten sie sehr wohl, dass Polen in dem Denken der deutschen Opposition im "Dritten Reich" keinen wichtigen Platz einnahm. Nur wenige wie der Sozialdemokrat Theodor Haubach oder der Zentrumspolitiker Paulus van Husen erkannten, dass die Verständigung mit Polen ein notwendiger Teil einer Neuorientierung Deutschlands war. Es kam kaum zu Begegnungen der deutschen Hitlergegner mit Vertretern des polnischen Widerstands. Die letzteren waren auch nicht gewillt, den Kontakt zum deutschen Widerstand zu suchen. Solche Versuche bargen das Risiko in sich, das Vertrauen der westlichen Alliierten aufs Spiel zu setzen und dadurch noch stärker unter Stalins Druck zu geraten.

Die Nachricht von dem Attentat in der Wolfschanze hat trotzdem in Warschau großes Aufsehen erregt. Die Führung des polnischen Untergrundstaates war gerade dabei, die Entscheidung über einen militärischen Aufstand vorzubereiten. Das Attentat, auch wenn es misslang, wurde als ein Zeichen dafür interpretiert, dass Deutschland geschwächt war. Das steigerte, wenn es stimmte, die Erfolgsaussichten des Aufstands. Manche sahen schon Parallelen zum Ersten Weltkrieg, der für Polen mit der Entwaffnung der in Warschau stationierten deutschen Truppen im Herbst 1918 zu Ende ging. Doch die Parallele war falsch. Am 1. August 1944 brach der Aufstand aus. Hitler-Deutschland hatte trotz der Nervosität nach dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 genug Kraft, den Aufstand niederzuschlagen, etwa 150.000 Menschen umzubringen, und die Stadt in eine gespenstische Ruine zu verwandeln.

Der Historiker Wlodzimierz Borodziej schrieb vor einigen Jahren einen Aufsatz, in dem er als ein Gedankenexperiment versuchte, nachzuzeichnen, wie die Geschichte weiter verlaufen wäre, wenn das Attentat auf Hitler erfolgreich geendet hätte. In seiner fiktiven Geschichte Europas nach dem 20. Juli setzt sich der Warschauer Aufstand durch, aber Polen wird ein geteiltes Land. In seinem westlichen Teil, dessen Grenze die Weichsel ist, entsteht ein demokratischer Staat, der an der Integration Europas zusammen mit Deutschland teilnimmt. Sein östlicher Teil gerät unter sowjetischen Einfluss und wird von Kommunisten regiert. Erst in den späten 1980er Jahren kommt es dort und in den anderen sowjetisch kontrollierten osteuropäischen Ländern zu einer friedlichen Revolution, die auch einer Wiedervereinigung Polens den Weg ebnet.

Wir können nicht wissen, welche Richtung die Geschichte genommen hätte, wenn das Attentat am 20. Juli 1944 gelungen wäre. Der Wert solcher Gedankenexperimente liegt darin, sich bewusst zu machen, dass es keinen historischen Determinismus gibt. Wenn man bedenkt, wo Deutsche und Polen in ihrem Verhältnis vor nicht so vielen Jahrzehnten standen und wo wir heute sind, dann sieht man einen Epochenwechsel. Im November 1989 fand dieser Epochenwechsel einen symbolischen Höhepunkt in Kreisau. Die Versöhnungsmesse mit Ministerpräsident Mazowiecki und Bundeskanzler Kohl fand nicht zufällig in Kreisau statt. Das Erbe der Kreisauer wurde als eine Quelle von Inspiration für das neue polnisch-deutsche Verhältnis anerkannt. Kreisau ist übrigens nicht der einzige Ort des deutschen Widerstands, der heute in Polen liegt. Auch die Wolfschanze gehört dazu und nicht zuletzt Steinort, das ehemalige Schloss der Grafen von Lehndorff, über die Antje Vollmer in ihrem Buch "das Doppelleben" so einfühlsam schreibt.

Wie gehen wir mit diesem Erbe um? Diese Frage gilt nicht nur den Orten des Widerstands. Sie ist im Grunde eine Frage nach dem Platz der Geschichte in dem polnisch-deutschen Verhältnis. Wir empfinden oft verständlicherweise eine Freude darüber, dass wir uns von der erdrückenden Last der Geschichte lösen konnten. Doch Geschichtslosigkeit ist genauso gefährlich wie Geschichtsbesessenheit. Manches deutet darauf hin, dass Geschichtsbilder in dem verunsicherten Europa an Bedeutung gewinnen, weil sie Menschen Orientierung bieten. Nur, wie erfüllen sie diese Funktion, wenn es immer weniger unter uns gibt, die die Geschichte als erlebte Geschichte kennen? Macht der zeitliche Abstand Geschichtsbilder objektiver oder manipulierbarer?

Die Fahnen von Deutschland, der Europäischen Union und von Polen am deutsch-polnischen Grenzübergang in Frankfurt (Oder). (Foto: dpa)

Der verstorbene amerikanische Historiker Tony Judt macht in seinem letzten Buch auf das Problem konkurrierender historischer Wahrheiten in der deutschen öffentlichen Diskussion aufmerksam, und fragt nach den Konsequenzen einer "Normalisierung" der Geschichte in Deutschland. Timothy Snyder, dessen neues Buch "Bloodlands" eine der wichtigsten Publikationen der letzten Jahre zur europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist, fragt im Gespräch mit Judt, welche Stellung die Geschichte Osteuropas in dem europäischen Geschichtsbild haben wird. Er warnt: "Das Fehlen der osteuropäischen Geschichte kann auch außerhalb Osteuropas ein Problem werden. Ohne eine klare Darstellung dessen, was dort geschah, können die Deutschen in die nationale Geschichte zurückrutschen oder in die Geschichte einer nationalen Opferrolle."

Die osteuropäische Geschichte ist im gewissen Sinne ein weißer Fleck im europäischen Geschichtsbewusstsein. Das gilt, trotz umfangreicher historischer Literatur zu dem Thema, auch für Deutschland. Wenn wir ein vertrauensvolles , verlässliches Verhältnis zwischen Deutschland und Polen wollen, müssen wir unsere Geschichte gegenseitig verstehen.

Ich bin hier, um zu bezeugen, dass ich trotz aller kritischen Distanz zu einem Teil des Gedankenguts des Widerstandes, diesem für das Selbstverständnis Deutschlands so wichtigen Kapitel der Geschichte Respekt erweise. Ich bin aber auch überzeugt, dass Deutschland die Kenntnis und das Verständnis der Erfahrung Mittel- und Osteuropas unter Hitler und Stalin braucht. Nicht zuletzt, weil diese Erfahrung auch aufs Engste verknüpft ist mit der deutschen Geschichte.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen sowie den anderen mittel- und osteuropäischen Völkern ist heute frei von der früheren Ambivalenz. Deutschland ist über einen langen Weg im Westen angekommen, um Heinrich August Winkler zu zitieren. Deutschland hat die Tradition der Sonderwege abgelegt. Auch Polen ist nach so vielen fehlgeschlagenen Versuchen endlich im Westen angekommen. Beide Länder akzeptieren ihren Platz in Europa, haben keine rivalisierenden Ambitionen. Im Sommer 1944, als das Attentat in der Wolfsschanze misslang und der Warschauer Aufstand niedergeschlagen wurde, haben auch die Tragödien beide Völker nicht verbinden können.

Ja, solche nationalen Traumata sind etwas sehr Intimes. Und gleichzeitig sind sie in ihren Konsequenzen auch ein Teil des Schicksals der Anderen, der Nachbarn. Deshalb bin ich so dankbar dafür, dass Sie mich eingeladen haben, an diesem Tag mit Ihnen zusammen zu sein. Ich verstehe und teile Ihre Trauer, und ich hoffe, dass auch Sie meine, unsere Trauer insbesondere um die Opfer des Warschauer Aufstandes teilen. Wenn das heute möglich ist, sehe ich darin ein Zeichen der Hoffnung für die Zukunft.

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