Italien:Konnte man die Flüchtlinge nicht retten - oder wollte man nicht?

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In Crotone an der kalabrischen Küste trauern Menschen an den Särgen mit den Opfern der Schiffskatastrophe. (Foto: Remo Casilli/Reuters)

Nach der Tragödie vor Kalabrien steht die Regierung in Rom im Verdacht, sie habe wissentlich zu wenig unternommen, um die Menschen zu retten. Die Debatte treibt auch das Kabinett um.

Von Oliver Meiler, Rom

Das große Flüchtlingsdrama vor Kalabrien vom vergangenen Wochenende mit bisher 66 geborgenen Todesopfern zerreißt die italienische Öffentlichkeit und Politik. Selbst aus der Rechtsregierung erhebt sich Kritik am parteilosen Innenminister Matteo Piantedosi - und das nicht nur wegen dessen kontroversen Aussagen nach der Tragödie: Piantedosi hatte den ertrunkenen Menschen nachgerufen, sie seien selbst schuld, keine Verzweiflung der Welt rechtfertige eine solche Flucht.

Die postfaschistischen Fratelli d'Italia, die Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, fordern den Minister, der der rechtspopulistischen Lega nahesteht, nun auf, er möge dem Parlament erklären, ob die Kommandokette für eine Rettungsaktion versagt habe, und wenn ja, warum.

Es ist früh klar, dass es sich um ein Flüchtlingsboot handelt

Von der Dynamik der Ereignisse, die zum dramatischen Schiffbruch der Summer Love führte, wie das Boot der Flüchtlinge hieß, ist bereits eine ganze Menge bekannt und belegt.

Mittwoch, 21. Februar, sieben Uhr. Rund 180 Menschen aus Afghanistan, Iran, Somalia und Pakistan steigen in Istanbul auf einen Lastwagen, unter ihnen viele Kinder und Frauen. Sie werden nach Izmir gebracht. In der Nacht legt ihr Schiff nach Europa ab, es heißt Luxury 2.

Für jeden Platz an Bord haben ihre Schlepper zwischen 4000 bis 8000 Dollar verlangt. Nach wenigen Stunden stirbt der Motor der Luxury 2 ab, die Schlepper ersetzen sie mit dem Fischkutter Summer Love, einer Holzbarke. Am Donnerstag geht die gefährliche und lange Reise nach Kalabrien weiter.

Samstag, 25. Februar, 4.47 Uhr. Das italienische "Zentrum für die Rettungskoordination" im Mittelmeer in Rom gibt eine unspezifische "Warnung" aus, die Summer Love erscheint auf seinem Radar. Die See im Ionischen Meer ist schon rau, und sie soll in den Stunden darauf immer rauer werden, das zeigen die Prognosen.

Um 22.30 Uhr bemerkt ein Flugzeug von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, die Summer Love etwa 40 Seemeilen vor der kalabrischen Küste. Frontex meldet dem "International Coordination Centre", dass das Boot mit sechs Knoten unterwegs sei, regulär, an Deck befinde sich eine einzige Person. Sie liefert außerdem eine thermische Karte, die ist sehr rot, ein Hinweis darauf, dass sich im Bauch der Summer Love viele Menschen befinden müssen.

Es ist allen klar, dass es sich um ein Flüchtlingsboot handelt. Die italienische Küstenwache entscheidet, dass sie die Angelegenheit nicht betreffe, dass sich in diesem Fall also anstatt einer Rettungs- eine Kontrolloperation anbietet. Und dafür ist die Guardia di Finanza zuständig, Italiens Steuer- und Zollpolizei. Warum so entschieden wurde und was damit womöglich Transportminister Matteo Salvini zu tun haben könnte, der die Oberaufsicht über die Küstenwache hat, das wird man vielleicht bei den Untersuchungen erfahren.

Die Schiffe der Finanzpolizei kehren um, ein Helikopter wird nicht ausgeschickt

Die Finanzpolizei besitzt zwar eine stattliche Flotte, doch Schiffe für wirklich schweren Seegang hat nur die Küstenwache. Die Guardia di Finanza darf auch nur bis zwölf Seemeilen vor der italienischen Küste kreuzen, und so wartet sie erst einmal ein paar Stunden ab.

Sonntag, 25. Februar, 0.30 Uhr. Zwei Boote der Finanzpolizei legen ab, um sich der Summer Love zu nähern. Doch schon nach kurzer Zeit brechen sie die Fahrt wieder ab: Die Wellen sind viel zu hoch, die See ist zu bewegt für ihre Schiffe. Man könnte nun auch einen Helikopter oder ein Flugzeug einsetzen, um den Kutter zu finden, aber davon sieht man ab. Um vier Uhr geht am Hafen des kalabrischen Vibo Valentia am Tyrrhenischen Meer ein Funkspruch ein, ein "Help" von der Summer Love. Mehr nicht.

5.00 Uhr. In Steccato di Cutro, einem kleinen Badeort an der Ionischen Küste, machen sich zwei Männer auf, um zu fischen. Die örtliche Küstenwache bittet einen von ihnen, er möge doch Ausschau halten nach einem Boot, das sich der Küste nähere. Da schwemmt das Meer schon die ersten Leichen an.

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Die Summer Love ist etwa hundert Meter vor dem Strand an einem Felsen zerschellt. Nun rückt die Küstenwache aus, mit zwei Booten, die stark genug sind für die hohen Wellen. Achtzig Menschen überleben. Manche von ihnen haben es aus eigener Kraft an Land geschafft, andere werden aus den Wellen gerettet.

66 Menschen aber sind tot, aufgebahrt in einer Sporthalle im nahen Crotone, 14 von ihnen sind Kinder. Auf einen kleinen Sarg haben die Angehörigen ein blaues Spielzeugauto gelegt. Dutzende Passagiere der Summer Love gelten noch als "vermisst", was in diesem Fall natürlich wie ein Hohn klingt. Konnte man sie nicht retten? Oder wollte man nicht, obschon die See gerade zur Hölle wurde? Warum war der Regierung Kontrolle da wichtiger als Rettung? Die Untersuchung hat erst begonnen.

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