Arabischstämmige Juden:Vertriebene des Orients

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Das Archivbild zeigt eine jüdische Familie in Jemen in den 20er Jahren. (Foto: imago)

Lange waren die Misrachim das wichtigste Wählerreservoir des rechten Likud von Premier Netanjahu. Historiker Georges Bensoussan dokumentiert nun das Leben arabischstämmiger Juden in Israel - auch deren Leidensgeschichten.

Rezension von Ronen Steinke

Ende der 1930er-Jahre waren 33 Prozent der Bewohner der irakischen Hauptstadt Bagdad jüdisch, ein größerer Anteil als zur selben Zeit in Warschau oder in New York.

Irak, die Heimat des bedeutenden babylonischen Judentums, der Entstehungsort des Talmud, der Schauplatz der biblischen Geschichten um Abraham, Isaak und Jakob: Heute liegt der Anteil der Juden dort bei null Prozent.

In den 1940er-Jahren wurden sie blutig vertrieben, ebenso in den folgenden Jahren aus anderen arabischen Ländern, die einst Heimat einer beträchtlichen jüdischen Minderheit waren.

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Heute besteht Israels jüdische Bevölkerung zur Hälfte aus Familien, die nicht aus Europa geflohen sind, sondern aus arabischen Ländern. Und wenn an diesem Dienstag Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vom rechtskonservativen Likud um seine Wiederwahl bangt, dann wird es auch um die Frage gehen, wie sich diese Hälfte verhalten wird, in Israel Misrachim (Orientalischstämmige) genannt.

Lange sind sie das wichtigste Wählerreservoir des Likud gewesen. Nach ihrer Ankunft hatten sie weit weniger als ihre aus Europa geflohenen Glaubensbrüder an eine gute Nachbarschaft mit Arabern glauben wollen. Erst dank ihnen war der Likud 1977 erstmals stärkste Kraft geworden.

Es hat, so zeigt der französische Autor Georges Bensoussan, Chefredakteur der Zeitschrift Revue d'Histoire de la Shoah, vor allem mit Erzählungen, mit Selbstverständnissen zu tun, dass sich die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern dennoch stets dagegen wehrten, als Flüchtlinge betrachtet zu werden, und dass sie ihre Migration nach Israel stattdessen hochstilisierten zum Erreichen eines lange ersehnten Ziels.

Recht unerbittlich schreibt Bensoussan, selbst Sohn marokkanischer Juden, von "Verklärung". Er nennt es "Gefallsucht der Entwurzelten". Die Misrachim, schreibt er, wollten nicht als Opfer nach Israel gekommen sein. Sondern als Pioniere oder Fromme. Ihre Ohnmacht und Misshandlung hätten sie deshalb oft selbst tabuisiert. Und die europäischstämmigen Juden hätten sich wenig dafür interessiert.

Die Fluchtgründe: Ausgrenzung, wirtschaftliche Drangsalierung - und Massaker

Nicht nur in Israel fehle es bis heute an einem angemessenen Gedenken an ihr Leid, sondern auch in Frankreich, wo die jüdischen Gemeinden, anders als in Deutschland, zu einem großen Teil aus maghrebinischstämmigen Familien bestehen.

In jüdischen Familien, die aus Algerien stammten, werde häufig behauptet, die algerische Befreiungsbewegung FLN in den 1950er-Jahren hätte die Juden am liebsten im Land behalten wollen, so zitiert Bensoussan die französische Soziologin Jeannine Verdès-Leroux.

"Kein einziger Gesprächspartner", so die Soziologin, habe von sich aus die zahlreichen Angriffe der FLN auf jüdische Orte erwähnt, etwa auf die große Synagoge von Algier. "Sie wurde vollständig geplündert", schreibt Bensoussan, "das Mobiliar zerschlagen, alle großen Gebetsrollen entweiht, die Gitter herausgerissen, die Aufschrift 'Tod den Juden' auf die Wände gemalt."

Georges Bensoussan: Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Verlag Hentrich&Hentrich, Berlin Leipzig 2019. 192 Seiten, 19 Euro. (Foto: N/A)

Mit seinem Buch arbeitet Bensoussan gegen diese Gedächtnislücke an. Er beleuchtet Land für Land, oft pointiert, aber trotzdem differenziert.

Während in Ägypten und dem Irak die Juden mit regelrechten Massakern vertrieben wurden, sei es in anderen arabischen Staaten eher ein systematischer Ausschluss aus der Gesellschaft gewesen, wirtschaftliche Drangsalierung, und "von Zeit zu Zeit schickte man einen Ingenieur, einen großen Angestellten anhand mysteriöser, kafkaesker Anklagen, die alle anderen mit Schrecken erfüllten, ins Gefängnis".

Dann kam der Mob, wie ihn zum Beispiel Michel Foucault 1967 als Gastwissenschaftler in Tunis beobachtete und in einem Brief an einen Freund beschrieb: "150 oder 200 Geschäfte - natürlich die armseligsten - geplündert, das unvergessliche Schauspiel der geplünderten Synagoge, auf die Straße gezerrte, mit Füßen getretene und verbrannte Teppiche, herumrennende Leute, die sich in ein Gebäude flüchten, an das die Menge Feuer legen will". Die Täter besaßen Listen mit den Wohnanschriften aller jüdischen Tunesier. Die meisten entschieden sich zu fliehen.

Auswanderung nach Israel - anfangs war das nur für Junge und Reiche möglich

Der Staat Israel förderte zwar die Auswanderung und Flucht aus den arabischen Ländern, ging dabei anfangs allerdings ausgesprochen restriktiv vor. Bis 1955 erhielten aus Marokko zum Beispiel nur Juden zwischen 18 und 45 Jahren sowie vermögende Familien das Recht auf Zuflucht.

In der Folge, so schreibt Bensoussan, habe Israel so gut wie nie versucht, mit dem Schicksal der jüdischen Flüchtlinge aus arabischen Ländern Politik zu machen oder gar ein Rückkehrrecht einzufordern. Was vielleicht ein Fehler war, meint er - weil dadurch das Unrecht, das den ungefähr 900 000 jüdischen Vertriebenen aus arabischen Staaten angetan wurde, über Jahrzehnte hinweg in der Weltpolitik keine Rolle gespielt habe.

© SZ vom 16.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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