Justizreform in Israel:"Wir müssen weitermachen"

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Abermals protestieren Zehntausende in Tel Aviv gegen die Pläne der Regierung Netanjahu (Foto: Reuters)

Am 30. Samstag in Folge demonstrieren Hunderttausende Israelis gegen die rechtsreligiöse Regierung unter Benjamin Netanjahu. Nun warnt sogar ein ehemaliger Zentralbankchef vor den Folgen der Justizpläne.

Von Sina-Maria Schweikle, Tel Aviv

Ob zu Fuß, auf Fahrrädern oder Elektro-Scootern: Sie kommen aus allen Richtungen. Mit der einen Hand den Lenker fest umgriffen - mit der anderen die israelische Flagge. Knapp eine Woche, nachdem die Knesset über die Aufhebung der "Angemessenheitsklausel" abgestimmt hat, haben sich rund 160 000 Menschen erneut in Tel Aviv zusammengetan, um gegen die Politik der rechtsreligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu demonstrieren. Durch das Gesetz solle es dem Obersten Gericht künftig nicht mehr möglich sein, Entscheidungen des Parlaments als "unangemessen" zurückzuweisen. Für Kritiker der "Reform" ist dies das Ende von Gewaltenteilung und Demokratie in Israel. Den 30. Samstagabend in Folge schwenken nun abermals Zehntausende Menschen in der Küstenstadt die israelische Flagge, die nun auch zu einem Symbol der Protestbewegung geworden ist.

"Wir haben es kommen gesehen. Aber keiner hat geglaubt, dass die Regierung es wirklich durchzieht", sagt Zivi Kalay. Auch sie hält eine israelische Flagge in der Hand. Auch sie demonstriert seit 30 Wochen, mal in Tel Aviv, mal in Jerusalem. Sie sagt, dass sie nach der Abstimmung schockiert war. Dass sie ein paar Tage brauchte, um die Ereignisse zu verarbeiten. Aber: "Wir können es uns nicht leisten, erschöpft zu sein." Deshalb sei ihr schnell klar geworden: "Wir müssen weitermachen".

Aus diesem Grund ist auch Kalay am Samstagabend von ihrer Heimatstadt Herzlija gemeinsam mit ihrem Partner Ariel Gorfung nach Tel Aviv gefahren. Für ihren Kampf für die Demokratie. Ein Kampf, der ihr einstweilen auch Sorgen bereite. Vor allem mit Blick auf die Einsatzkräfte. Deshalb steht sie an diesem Abend abseits der Massen, hält sich in "der sicheren Zone" auf, wie sie sagt und meint damit, dass sie sich von den Wasserkanonen und den Polizeipferden fernhält. Keine unbegründete Sorge. Laut der israelischen Zeitung Haaretz will die Polizei künftig mit einem stärkeren Polizeiaufgebot bei den Demonstrationen reagieren. Und laut dem Bericht erwägen die Beamten auch den Einsatz von Schlagstöcken, Blendgranaten und Tränengas. Mindestens 18 Menschen sollen in dieser Woche bei Demonstrationen schon durch Polizeieinsätze verletzt worden sein.

Reservisten drohen, ihren Dienst zu verweigern

Trotzdem wollen Zivi Kalay und Ariel Gorfung weiter demonstrieren. Man müsse sich für die Demokratie im Land einsetzen, sagt Gorfung. Er ist Reservist, viele seiner Kollegen sind im Krieg, im Kampf für Israel, gestorben. "Wenn die Regierung nun so weitermacht und das Land in eine Diktatur stürzt, dann war ihr Tod umsonst." Mit solchen Aussagen ist Ariel Gorfung nicht alleine. Immer mehr Reservisten haben angekündigt, dass sie wegen des Justizumbaus der rechtsreligiösen Regierung keinen Militärdienst mehr leisten wollen. Auch Piloten sind dabei und andere Angehörige von Eliteeinheiten, von deren Reservedienst die Schlagkraft der Armee entscheidend abhängt. Erst diese Woche haben weitere 120 Reservisten der israelischen Luftwaffe angekündigt, dass die Armee nicht mit ihnen rechnen kann.

Während sich Ariel Gorfung und Zivi Kalay mit ihren Freunden unterhalten, geht die Demonstration weiter. Ein Feuerwerk wird gezündet, Menschen jubeln. Gemeinsam singen Tausende die israelische Nationalhymne und rufen abwechselnd im Chor "Demokratia" und "Buscha", Schande, während sich Händler mit Einkaufwagen ihren Weg durch den Tumult bahnen, aus dem sie kaltes Wasser und Eiscreme verkaufen - auch das gehört zu Demonstrationen bei knapp 30 Grad am Abend.

Es wird getanzt, getrötet und geschrien. Auf übergroßen Bildschirmen werden Bilder vorheriger Demonstrationen gezeigt. Etwa die vom Protestzug Tausender Menschen, die vergangene Woche von Tel Aviv nach Jerusalem marschiert sind, um gegen die Abstimmung in der Knesset zu demonstrieren. Zwischendurch werden immer wieder Parolen auf Spruchbändern gezeigt, auf denen steht "Wir müssen Widerstand leisten" oder "We will win".

Dass die Protestbewegung am Ende siegen wird, das sieht auch Liat Mizrachi so. Die 42-Jährige arbeitet nur wenige Meter entfernt von der Kaplanstraße, wo sie nun inmitten Tausender Menschen steht. Auch sie zieht jede Woche auf die Straße, um sich für die Zukunft ihres Landes einzusetzen. Wie viele andere an diesem Abend berichten, sei auch sie am Montag nach der Abstimmung niedergeschlagen gewesen. Aber es sei eben ein Kampf für das Wesentliche: Für die Grundrechte. Für die Freiheit. "So einfach ist das", sagt sie.

"Wir haben noch nie eine so große Wertvernichtung erlebt"

Doch auch etwas anderes beschäftigt Mizrachi, weshalb sie demonstriert. "Siehst Du das Gebäude da?", fragt sie und deutet in Richtung eines Hochhauses. "Da arbeite ich in einer Tech-Firma." Mizrachi ist Mutter von drei Kindern und arbeitet als Ingenieurin. "Auch dafür kämpfen wir." Sie habe Angst, dass auch die Wirtschaft darunter leiden wird, wenn die rechtsreligiöse Regierung unter Benjamin Netanjahu mit der Justizreform weiter voranschreitet. Dass die Wirtschaft und Tech-Industrie einbüßen könnte: an Bedeutung im eigenen Land - aber auch weltweit.

In einer Ansprache vor den Demonstranten hatte auch der frühere israelische Zentralbankchef Jacob Frenkel vor schweren wirtschaftlichen Schäden der Justizreform gewarnt. Mit der Billigung "eines ersten Gesetzes zur Schwächung der Justiz" habe die Netanjahu-Regierung "den Rubikon überschritten", so Frenkel nach Angaben der Nachrichtenseite Ynet. Ausländische Investoren seien besorgt angesichts des dramatischen Wandels in Israel binnen eines halben Jahres. "Wir haben noch nie eine so große Wertvernichtung innerhalb so kurzer Zeit erlebt", sagt Frenkel demnach. "Nicht durch Feinde von außen, sondern durch die Regierungspolitik."

Die Regierung habe ihr Versprechen gebrochen, die Reform nur auf der Basis eines breiten Konsens durchzusetzen. Tatsächlich stufte nur wenige Tage, nachdem die Regierung ihren Gesetzesentwurf in der Knesset durchgepeitscht hat, die Investmentbank Morgan Stanley die Kreditwürdigkeit Israels herab, und die Ratingagentur Moody's warnte vor negativen Folgen für die Wirtschaft des Landes angesichts der politischen und sozialen Spannungen. Die Investitionen in den Start-up-Sektor sind bereits dramatisch gesunken - er gilt gemeinhin als wichtigstes Zugpferd der israelischen Wirtschaft.

Medienberichten zufolge sollen Hunderttausende an diesem Samstagabend auf den Straßen Israels gewesen sein. "Wir kämpfen für die Freiheit. Für die Zukunft unserer Kinder", schreit Liat Mizrachi in den Lärm von Tel Aviv. "Deshalb werden wir siegen." Laut Haaretz hat sich zumindest ihre Großdemonstration gegen 22 Uhr Ortszeit in diverse Protestmärsche zerstreut. Und die Polizei hat Versuche der Demonstranten, die Straßen in Tel Aviv auch in der Nacht zu blockieren, verhindert.

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