Israel:"Seit dem Holocaust nicht mehr erlebt"

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Israelische Soldaten durchkämmen am Montag ein Gebiet bei Sderot, während Raketen aus Gaza in Richtung Israel abgefeuert werden. (Foto: Amir Cohen /Reuters)

Israels Präsident zeigt sich entsetzt vom Angriff der Hamas, die Armee startet eine Gegenoffensive. Auch Ziele in Libanon werden attackiert. Premier Netanjahu fordert eine Notstandsregierung.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die Opposition aufgefordert, ohne Vorbehalte in eine Notstandsregierung einzutreten. "Wir befinden uns in einem Einsatz für die Heimat, einem Krieg zur Sicherung unserer Existenz, einem Krieg, den wir gewinnen werden", sagte er bei einer Ansprache im Fernsehen. Spaltungen unter den Israelis erklärte Netanjahu für beendet. "Wir sind alle vereint."

Auch die Führung solle sich nun zusammentun und mit der Opposition eine Notstandsregierung bilden. "Dieser Krieg wurde uns von einem verabscheuungswürdigen Feind aufgezwungen - von Bestien, die die Ermordung von Frauen, Kindern und Alten feiern." Die Bilder der Zerstörung in Gaza seien "nur der Anfang", drohte Netanjahu. Hunderte Terroristen seien bereits "ausgelöscht" worden.

Seit Jahresbeginn ist es in Israel zu massiven Protesten gegen einen Justizumbau gekommen, den Netanjahus rechts-religiöse Regierung vorantreibt. Der Streit führte zur Spaltung der Gesellschaft. Einige Beobachter glauben, Israel sei durch die internen Streitigkeiten von der Gefahr, die von der militant-islamistischen Hamas ausging, abgelenkt gewesen.

Israel beklagt mindestens 900 Tote

Unterdessen gingen die Kämpfe auch am dritten Tag nach dem überraschenden Angriff der Hamas auf den Süden Israels weiter. "Das israelische Militär hat weite Gebiete wieder unter Kontrolle gebracht", sagte der israelische Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. In wenigen Ortschaften im Süden des Landes komme es jedoch vereinzelt noch zu Kampfhandlungen.

Israel beklagt inzwischen mindestens 900 Tote und 2600 Verletzte. "Seit dem Holocaust haben wir nicht mehr erlebt, wie jüdische Frauen und Kinder, Großeltern - sogar Holocaust-Überlebende - in Lastwagen gepfercht und in die Gefangenschaft gebracht wurden", erklärte Präsident Isaac Herzog nach Angaben seines Sprechers. Auch unschuldige Muslime und andere Gläubige hätten die Hamas-Anhänger gefoltert. Ganze Familien seien kaltblütig ermordet worden. "Wir werden mit voller Kraft und unerschütterlichem Engagement handeln, um diese Bedrohung für unser Volk zu beseitigen", so der Präsident.

Unter dem Operationsnamen "Iron Swords" (Eiserne Schwerter) hatte das israelische Militär mit einer Gegenoffensive begonnen. Nun steigen auch im Gazastreifen die Opferzahlen. Bei israelischen Luftangriffen wurden nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums mindestens 687 Menschen getötet und mehr als 3800 verletzt.

Etwa 150 Geiseln hat die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel in den Gazastreifen verschleppt. In israelischen Medien heißt es, Katar versuche, einen raschen Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas herbeizuführen. Die Hamas fordert die Freilassung von 36 inhaftierten Palästinenserinnen in Israel für die Übergabe von älteren entführten Israelinnen. Wie viele israelische Frauen ausgetauscht werden sollen, ist unklar.

Auch 13 000 Mitarbeiter der Vereinten Nationen sitzen im Gazastreifen fest

Israel hatte am Montag die komplette Abriegelung des nur 40 Kilometer langen und sechs bis zwölf Kilometer breiten Gazastreifens angeordnet. Kurz zuvor hatte Verteidigungsminister Joav Gallant erklärt, dass er eine "vollständige Belagerung" angeordnet habe. "Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen." Auch die Wasserversorgung werde mit sofortiger Wirkung unterbrochen. Auch 13 000 Mitarbeiter der Vereinten Nationen sitzen im Gazastreifen fest. "Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, wegzugehen", sagte UN-Sprecher Stephane Dujarric. "Sie konzentrieren sich darauf, im Rahmen ihres Mandats alles zu tun, was sie können, um der Bevölkerung zu helfen."

Neben der Front im Süden droht Israel eine schärfer werdende Auseinandersetzung im Norden mit der Hisbollah. Am Montag hatte die israelische Armee zunächst Ziele in Libanon mit Kampfhubschraubern angegriffen, nach Angaben der Hisbollah sollen drei ihrer Kämpfer dabei getötet worden sein. Am Abend feuerte die eng mit Iran verbündete schiitische Miliz dann Raketen auf Israel ab. Berichte über Opfer gab es zunächst nicht.

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Die Luftangriffe auf den Gazastreifen sind für den Politikwissenschaftler und Militärexperten Carlo Masala erst der Beginn der israelischen Gegenoffensive. Sobald die Kontrolle Israels über sein Territorium wiederhergestellt ist, sei von einer großangelegten Bodenoffensive im Gazastreifen auszugehen. Der ehemalige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman forderte bereits eine solche Invasion. Seit Samstag mobilisierte Israel rund 300 000 Reservisten.

Die israelische Armee scheint die Situation auf heimischen Boden bereits weitgehend unter Kontrolle gebracht zu haben, die Raketen der Hamas flogen jedoch weiter. Bei einem Beschuss am Montag heulten vielerorts die Sirenen.

Raketenangriffe der Hamas sind nichts Neues. Doch bisher wurden sie meistens durch das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome abgewehrt. Dieses sonst so bewährte System schien am Samstag mit dem Angriff überfordert gewesen zu sein. Auf Bildern und Videos ist zu sehen, dass die Hamas Hunderte Raketen innerhalb von kürzester Zeit abgefeuert hat - möglicherweise mehr, als das Iron-Dome-System bewältigen konnte. Dass es der Hamas gelungen ist, das System offenbar auszuspielen, könnte laut New York Times darauf hinweisen, dass die Angreifer am Samstag erstmals ein neues Raketensystem mit dem Namen Rajum genutzt haben. Außerdem verwendete die Hamas kleine Drohnen, die Munition auf israelische Militärstellungen abwarfen.

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