Wenn sich Russlands Präsident Wladimir Putin heute in seiner Rede zur Lage der Nation zur näheren Zukunft des Landes äußert, steht eine Frage unausgesprochen im Raum: Wie geht es in fünf Jahren mit Russland weiter? Denn laut Verfassung kann der Präsident Russlands nach zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten nicht noch einmal kandidieren. Der Politologe Grigorii Golosov von der European University in Sankt Petersburg ist sich dennoch sicher, dass Putin nach dem Auslaufen seiner zweiten sechsjährigen Amtszeit im Jahr 2024 an der Macht bleiben wird - und skizziert vier mögliche Wege dahin.
SZ: Herr Golosov, warum klammert sich Wladimir Putin aus Ihrer Sicht so sehr an die Macht?
Grigorii Golosov: Das entspricht der Logik von Systemen, in denen die Macht bei einem Einzelherrscher liegt. Die Nachfolge lässt sich darin nicht einfach bewerkstelligen. Wenn es also keinen dringenden Grund gibt, einem Nachfolger das Feld zu überlassen, bevorzugen es Einzelherrscher üblicherweise, selber an der Macht zu bleiben. Sie sind in aller Regel davon überzeugt, dass sie ihren Job gut machen, und dass ein Wechsel Probleme für das Land nach sich ziehen würde. Außerdem müssen sie damit rechnen, vom Nachfolger für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Putin weiß genau, dass es sehr schwer wäre, irgendwo auf der Welt einen Zufluchtsort zu finden, sollte es für ihn in Russland gefährlich werden.
Der frühere Präsident Jelzin überließ Putin das Amt, nachdem ihm dieser seine persönliche Sicherheit garantiert hatte, und Putin hielt sich daran.
Das war eine andere Situation. Jelzin war kein autoritärer Staatsführer, was ja gerade dadurch zum Ausdruck kommt, dass er die Macht abgab. Es gab keine Gründe für eine Strafverfolgung. Als Anfang 1999 ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn angestrengt wurde, mit der Begründung, er habe die Sowjetunion aufgelöst und der Armee Schaden zugefügt, versuchten seine Gegner, ihm Straftaten anzuhängen, was ihnen nicht gelang. Putin hat hingegen sehr viele Altlasten angehäuft, die als Rechtsverstöße interpretiert werden könnten. Dass er zur Rechenschaft gezogen werden würde, ist sehr wahrscheinlich.
Aber wie soll es Putin zustande bringen, weiter Präsident zu bleiben?
Aus meiner Sicht sind vier Wege möglich. Erstens durch die Gründung eines neuen Landes, indem sich Russland etwa mit Weißrussland zusammenschließt. Zweitens durch eine Verfassungsänderung, drittens durch eine völlig neue Verfassung, oder viertens durch die erneute Installation eines Platzhalters, wie es Dmitrij Medwedjew bereits zwischen 2008 und 2012 war.
Welche Option ist die wahrscheinlichste?
Eine Änderung der Verfassung ist eine durchaus denkbare Alternative. Dies würde zwar mit einem erheblichen Ansehensverlust des russischen Staatswesens einhergehen. Damit litte die internationale Anerkennung Russlands, denn dadurch würde man sich auf eine Stufe mit den schlimmsten Diktaturen der Welt stellen. Allerdings ist dem Kreml der internationale Ruf Russlands inzwischen relativ egal.
Wäre eine komplett neue Verfassung für das Image weniger nachteilig?
Um das Gesicht zu wahren, wäre das in der Tat die bessere Lösung. Denn das würde ein Referendum erfordern, was dem Ganzen einen deutlich demokratischeren Anstrich verliehe, als wenn die Putin nahestehende Partei "Einiges Russland" mit ihrer erdrückenden Mehrheit in der Duma einfach den Prozess anstieße, an dessen Ende der Präsident beliebig viele Amtszeiten absolvieren kann. Putin liebt Referenden. Das ist wahrscheinlich die einzige demokratische Institution, die er tatsächlich schätzt.
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Vermutlich, weil er damit rechnen kann, dass sich Mehrheiten in seinem Sinne ergeben, er verfügt ja über viel Zuspruch im Land.
Genau. Und eine komplett neue Verfassung wäre sicher etwas aufwändiger als eine Verfassungsänderung, weil sie vermutlich eine Neuverteilung der politischen Macht nach sich ziehen würde. Etwa indem von einem präsidentiellen auf ein parlamentarisches System umgestellt werden würde. Aber das wäre ohne weiteres machbar und würde besser aussehen.
Die radikale Neuerfindung des russischen Staates zum Beispiel durch eine Vereinigung mit Weißrussland halte ich dagegen für sehr unwahrscheinlich. Denn das wäre zu kompliziert. Weißrussland würde sich dagegen sträuben, absorbiert zu werden, was erhebliche internationale Komplikationen zur Folge hätte.
Und die vierte Option - ein Rollentausch, wie es ihn 2008 gab, als Medwedjew für eine Amtszeit Präsident war und Putin Ministerpräsident?
Ich würde keinesfalls ausschließen, dass Medwedjew 2024 noch einmal Präsident wird.
Als dessen Amtszeit als Präsident auslief und Putin wieder in den Kreml einziehen wollte, gingen die Menschen in Scharen auf die Straßen.
Die Proteste wären wohl ohne das gesellschaftlich liberalere Klima während der Präsidentschaft Medwedjews nicht denkbar gewesen. Allerdings haben sich die oppositionellen Kräfte in den vier Jahren seiner Amtszeit nicht ausreichend organisiert, um die Proteste zum Erfolg führen zu können. Dafür gab es keine Strukturen und keine geeigneten Anführer. Inzwischen ist in Russland kein politischer Druck erkennbar, der Putin zur Demission veranlassen könnte, weder von der Opposition noch in den inneren Zirkeln der Macht.
Was bedeutet es für Russlands Verhältnis zum Westen, wenn Putin dem Land noch lange als Staatsführer erhalten bleibt?
Putins Wunsch, im Amt zu bleiben, beruht zu einem erheblichen Teil darauf, dass er wirklich glaubt, als Einziger die russischen Interessen gegenüber dem Westen wirksam vertreten zu können. Sogar viele oppositionell eingestellte Russen halten Putin die derzeitige Außenpolitik zugute, die darauf ausgelegt ist, Russlands Unabhängigkeit zu verteidigen und den internationalen Einfluss des Landes zu erhöhen. Für Putin besteht daher nicht der geringste Anreiz, seine Beziehungen zum Westen zu verbessern.
Aber was ist mit den westlichen Sanktionen?
Die Sanktionen tun Russland weh. Doch wenn Putin erhebliche Zugeständnisse machen würde, um zu erreichen, dass sie aufgehoben werden, würde das in Russland sofort zur Kenntnis genommen. Und die daraus resultierende Verbesserung der ökonomischen Lage würde sich weit später erst bemerkbar machen. Vielleicht bliebe der Aufschwung sogar aus, weil die wirtschaftlichen Probleme Russlands oftmals struktureller Natur sind. Und der Kreml könnte dann die Schuld für die schlechte wirtschaftliche Lage nicht mehr auf die Sanktionen schieben.