Internet-Überwachung:Süchtig nach Angst

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A member of the SWAT team trains a gun on an apartment building during a search for the remaining suspect in the Boston Marathon bombings in Watertown

Angst vor dem Terror: Ein Polizist im Einsatz bei der Jagd nach den Attentätern von Boston in den USA

(Foto: Reuters)

Die Überwachungsmaschinerie des US-Geheimdienstes NSA ist nur Teil eines gewaltigen Sicherheitsapparates. Im Verborgenen arbeiten Hunderttausende Menschen an geheimen Sicherheitsprojekten und verdienen fürstlich daran. Doch das Risiko des Terrors und der Aufwand der Abwehr stehen in einem erschreckenden Verhältnis.

Von Jörg Häntzschel

Am 11. September 2001 wurden 2977 Menschen getötet. In einer Wolke aus Staub, deren Anblick sich in die Hirne von Milliarden Menschen einbrannte, stürzte New Yorks höchstes Gebäude, von den beiden Flugzeugen mit chirurgischer Präzision durchbohrt, buchstäblich aus heiterem Himmel in sich zusammen.

Dass Politiker und andere, zu deren Aufgaben Besonnenheit gehört, damals ebenso traumatisiert und verängstigt waren wie alle anderen Menschen, kann man ihnen kaum verdenken. Dass sie, im Schock und auf rauchenden Trümmern stehend primitive Vergeltungsschwüre ins Megafon riefen und mit haltlosen Einschätzungen die Angst noch anfachten, mag ebenfalls verzeihlich sein: "Jeder Sicherheitsexperte, ich selbst eingeschlossen hätte Ihnen am 11. September dasselbe gesagt: Wir erwarteten Dutzende solcher Angriffe", so Rudy Giuliani 2005. Doch die Angriffe sind ausgeblieben. Seit den Attentaten von Madrid und London hat es keinen größeren Terroranschlag im Westen gegeben.

Wäre es also nicht an der Zeit, das große Tabu der Gegenwart zu brechen, und 9/11 zu dem zu erklären, was es bei nüchterner Betrachtung wohl ist: eine historische Anomalie, ein Ausnahmefall? Da es einen Terroranschlag dieser Größe in der jüngeren Geschichte nicht gab und auch seitdem nie wieder, spricht alles dafür, dass uns geringe Wahrscheinlichkeit, ein auch nur annähernd katastrophales Ereignis könne sich ereignen, nicht ernsthaft ängstigen muss.

Terrorwarnung als Grundrauschen

Doch die Entwarnung kam nie. Im Gegenteil. Die Hinweise auf eine ominöse Bedrohung sind in den USA mittlerweile so allgegenwärtig wie die kommunistische Propaganda im ehemaligen Ostblock. Sie gehören zum atmosphärischen Grundrauschen der Nation wie der Chlorgeschmack zum amerikanischen Trinkwasser.

Viel schlimmer: Mitten in einem demokratischen Staat wurde ein im Verborgenen operierender, Milliarden Dollar verschlingender Überwachungsapparat installiert. Grundlage dafür ist die regelmäßige Auffrischung alter Ängste. In einem 2009 erschienen Bericht des Heimatschutzministeriums heißt es, "die Zahl und die Professionalität der internationalen und auf US-Boden ausgeführten Anschläge und vereitelten Anschläge ... unterstreichen die Entschlossenheit und Zielstrebigkeit der Terrororganisationen. Die Terroristen haben sich als rücksichtslos, geduldig, opportunistisch und flexibel erwiesen." Im Februar 2011 erklärte die Heimatschutzministerin Janet Napolitano vor dem Kongress, die Bedrohung durch Terrorismus sei "in vieler Hinsicht so hoch wie nie" seit dem 11. September 2001. Und vor wenigen Tagen schmetterte Obama die Kritik an Prism mit dem Hinweis auf "50 terroristische Anschlägen" ab, die das Programm verhindert habe. Die vier, die er nannte, erschienen alles andere als dramatisch.

"Fortgeschrittene Pläne", "konkrete Hinweise" oder auch nur "chatter" (Geplauder): Bislang genügte jeder noch so vage Hinweis auf "Terrorismus", um das Bild der brennenden Twin Towers aufzurufen, den kollektiven Puls nach oben zu treiben und die Vernunft außer Kraft zu setzen. Wie Pavlowsche Hunde, die speicheln, wenn das Glöckchen läutet, reicht die Angst vor Terror und die Aussicht auf "Sicherheit", um sich am Flughafen durchleuchten, von Kameras verfolgen und im Internet ausspähen zu lassen.

Bei Politikern und anderen öffentlichen Verantwortlichen hat das "T-Wort" einen anderen Effekt. Es schaltet jeden Widerstand gegen die Ansprüche von Polizei, Geheimdiensten und Justiz aus. So wurde das Heimatschutzministerium erfunden, der Patriot Act verabschiedet und etliche in den Siebzigerjahren installierte Schutzmechanismen aufgehoben, die jenes unkontrollierte Ausspähen verbaten, das nun, und zwar mit technischen Möglichkeiten, von denen man damals nur träumen konnte, täglich und weltweit praktiziert wird.

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