Wahlwatcher im Interview:Hampe: "Für 13 Prozent der Bevölkerung ist Nächstenliebe nicht politikrelevant"

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Viele AfD-Wähler sehen ihre Stimme als Reaktion auf Merkels Position während der Flüchtlingskrise, mit dem gleichen Argument stimmten viele für die Kanzlerin. Was für die einen ein Akt der Nächstenliebe war, empfinden die anderen als große Ungerechtigkeit. Offenbart die Wahl auch einen Riss in unserem Wertesystem?

Wehling: Vielmehr offenbart sie die Notwendigkeit, solche gewichtigen Entscheidungen und den eigenen politischen Kurs in glasklare Worte zu fassen und damit moralisch nachvollziehbar zu machen.

Hampe: Sie offenbart, dass für 13 Prozent der Bevölkerung Nächstenliebe nicht politikrelevant ist. Gibt es "unser Wertesystem" denn überhaupt? Vielleicht als Fassade. Ich finde, dass Nächstenliebe in unserer Gesellschaft ohnehin keine so große Rolle spielt, auch Solidarität nicht - trotz unseres Sozialstaates und unseres Gesundheitssystems. Wir leben doch vor allem in einer Konkurrenzgesellschaft.

Dorn: Wir haben es mit einem Realismus-Problem zu tun: Aus der Tatsache, dass wir nicht allen Menschen weltweit helfen können, denen es schlechter geht, folgt nicht, dass wir niemandem helfen sollten. Aber es folgt daraus, dass ein christlich inspirierter Aufruf zur allumfassenden Nächstenliebe nichts mit einem politischen Wirklichkeitssinn zu tun hat.

Geyer: Man sollte sich angesichts dieses Wahlergebnisses auch die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit nicht schönreden. Wer erinnert sich noch an die Ausländer- und Asyldebatte vor der Jahrtausendwende?

Haben Sie Sorge, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet?

Wehling: Ja, denn es zeigen sich zunehmend zwei Pole und zwei sich entgegenstehende Auffassungen darüber, was es bedeutet, patriotisch für sein Land einzustehen: Auf der einen Seite steht das "Wir" als Abgrenzung gegen andere, auf der anderen das inklusive "Wir", das den Fokus auf die Fürsorge für seine Mitbürger legt.

Hampe: Wenn ich unsere Gesellschaft mit der der USA vergleiche, habe ich diesen Eindruck nicht und befürchte das auch nicht. In einer pluralen Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass unterschiedliche Gruppen durch Unterschiedliches umgetrieben werden.

Dorn: Wir müssen verhindern, dass die beiden Lager weiter auseinanderdriften. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Es ist zu befürchten, dass die AfD versuchen wird, die konservative Mitte der Bevölkerung weiter nach rechts zu ziehen, indem sie immer mehr Hemmschwellen einreißt. Es wird ein enormes Fingerspitzengefühl brauchen, damit umzugehen. Es muss gelingen, der AfD dort, wo sie echte Probleme anspricht, zuzugestehen, dass sie dies tut. Und gleichzeitig müssen wir alle zusammen, die Medien, die Politiker, alle öffentlich Sprechenden, sehr deutlich machen, dass vereinfachende, polemische bis rassistische Zuspitzungen den eigentlichen Kern der Probleme verfehlen.

Geyer: Die Welt ist sozial und kulturell ungleicher und vielfältiger geworden, und zwar in der materiellen Lebenslage der Menschen wie in der Alltagskultur. Manches davon mag man, anderes nicht.

Wie muss politische Arbeit in Zukunft aussehen in einem Parlament mit sieben Parteien in sechs Fraktionen?

Wehling: Alle Parteien müssen sprachlich bei sich bleiben, eine Sprache sprechen, die auch wirklich der eigenen politischen Grundhaltung entspricht. Nur so funktionieren Streit und Koalition langfristig. Nur, wer sich selbst versteht und seine Identität verlässlich für sich und andere formulieren kann, kann seinem politischen Gegenüber fair begegnen.

Hampe: Es wird wohl eine doppelte Opposition geben: eine starke von links mit SPD und Linken und daneben eine schwache von rechts. Das macht die Lage komplexer. Ich hoffe, dass dadurch ein Druck auf das politische System entsteht, neue politische Konzepte zu entwickeln, vielleicht sogar neue Lebensformen, langfristig. Das muss ich jedenfalls hoffen.

Dorn: Manches spricht dafür, dass das bundesrepublikanische Links-Rechts-Schema endgültig ausgedient hat. Das Schlimmste, was passieren kann: dass rund um Merkel nun eine Fünf-Parteien-Konsenslandschaft entsteht.

Geyer: Das Klima wird rauer, aber das muss mit Blick auf die Debattenkultur nicht unbedingt nur von Nachteil sein. Angesichts der aktuellen Weltlage ist eine der wichtigsten Entscheidungen, möglichst schnell einen ernstzunehmenden Außenminister zu finden. Auf diesem Feld war die große Koalition eigentlich sehr erfolgreich, auch wenn das im Wahlkampf unterging.

Wahl-Watcher

Zur Interviewserie "Wahl-Watcher": In den Monaten vor der Bundestagswahl treten die Konturen der politischen Kultur in Deutschland besonders deutlich hervor. Deshalb beobachten vier ausgewählte Intellektuelle den Wahlkampf und erklären in regelmäßigen Interviews, was dieser über den Politikbetrieb und das Land und seine Bürger aussagt: Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Philosoph Michael Hampe, die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling und der Historiker Martin H. Geyer werfen einen Blick auf Deutschland und seine Themen in diesem Wahljahr.

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