Robert Sommer ist Autor des Buches "Das KZ-Bordell". Der promovierte Kulturwissenschaftler spricht im Interview mit sueddeutsche.de über den Bordell-Besuch als Anreiz für die Steigerung der Produktivität bei den Häftlingen und wie es den Prostituierten nach dem Krieg erging.
sueddeutsche.de: Herr Sommer, unter den Nationalsozialisten wurden zwischen 1942 und 1945 zehn sogenannte Sonderbauten errichtet. Dort wurden etwa 190 Frauen zur Prostitution gezwungen. Woher stammte die Idee, Bordelle für Häftlinge zu errichten?
Robert Sommer: Allgemein bestand das Ziel der NS-Politik ab 1939 darin, die Prostitution zentral zu regulieren. Es sollte ein flächendeckendes System bestehend aus städtischen, militärischen und Zwangsarbeiterbordellen errichtet werden, um so männliche Sexualität zu kanalisieren und zu kontrollieren. Heinrich Himmler, der Reichsführer-SS, wollte durch die Einrichtung von KZ-Bordellen die Arbeitsproduktivität der Häftlinge steigern. Diese war aufgrund der harten Bedingungen äußerst gering. Auf der Suche nach Lösungen für die Produktivitätssteigerung hat sich Himmler an einem Akkordsystem in den sowjetischen Gulags orientiert.
sueddeutsche.de: Inwiefern?
Sommer: Himmler verwies immer wieder auf die sowjetischen Arbeitslager; hier seien die Russen durch ein funktionierendes Akkordsystem zu Höchstleistungen gebracht worden, behauptete er. Dasselbe wollte man nun in den deutschen Lagern umsetzen. Während allerdings in den Gulags die erhöhte Arbeitsleistung mit einer größeren Nahrungsration entlohnt wurde, verfolgte Himmler einen anderen Ansatz.
sueddeutsche.de: Ein Bordell-Besuch als Belohnung?
Sommer: Himmler sah die sexuelle Ausbeutung der Frau als ein gegebenes Recht des Mannes. Die Einrichtung von Bordellen war für ihn also ein idealer Anreiz für die Steigerung der Produktivität bei den Häftlingen. "Für notwendig halte ich allerdings, dass in der freiesten Form den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden", meinte er hierzu.
sueddeutsche.de: Wie setzte er diesen Plan dann in den Lagern um?
Sommer: Durch ein sogenanntes Prämiensystem. Mittels dieses Systems sollten den Häftlingen in der Form von Prämienscheinen, die jeweils einen bestimmten Reichsmark-Gegenwert besaßen, besondere Vergünstigungen genehmigt werden. Dazu gehörten etwa eine erhöhte Brieffrequenz oder die Möglichkeit, sich einen militärischen Haarschnitt schneiden zu lassen.
Außerdem konnte man sich in der Lagerkantine Zigaretten und andere Dinge kaufen, die jedoch für den Häftling wenig Wert hatten. Als höchstes Privileg galt der Bordellbesuch, der bis zu einmal die Woche gestattet werden sollte.
sueddeutsche.de: Ab wann hatten die Häftlinge Zugang zum Lagerbordell?
Sommer: 1942 entstand das erste Bordell im KZ Mauthausen. Zu dieser Zeit gab es noch kein Prämiensystem. Die Prämien-Verordnung wurde 1943 eingeführt und schuf für das Anreizsystem einen Rahmen. Davor gestattete die SS den Bordellbesuch nur Funktionshäftlingen, also Häftlingen, die für die SS aufgrund ihrer Fähigkeiten von besonderer Bedeutung waren.
Mit der Prämien-Verordnung sollten nun alle Häftlinge davon profitieren können. Dieser Plan ging im Endeffekt nicht auf, da die meisten Häftlinge physisch für einen Bordellbesuch viel zu erschöpft waren, daher für einen Besuch auch kein Geld in Form der Prämienscheine hatten oder ihn moralisch ablehnten.
sueddeutsche.de: Welche Frauen waren in den KZ-Bordellen?
Sommer: Die meisten von Ihnen waren sogenannte Asoziale. Die "Asozialen" waren eine Haftgruppe, die im Lager den sogenannten schwarzen Winkel trugen. Darunter fielen Frauen, die sich in irgendeiner Form nicht in den NS-Staat einfügten, beispielsweise den Bund Deutscher Mädels ablehnten oder nicht zum Reichsarbeitsdienst gingen. Auch ehemalige Prostituierte, die den Auflagen der Polizei nicht nachkamen, zählten dazu.
sueddeutsche.de: Wie wurden die Frauen für die Lagerbordelle ausgewählt?
Sommer: Die ersten Frauen wurden in Ravensbrück rekrutiert. Dort versuchte die SS zunächst, Frauen zu finden, die sich "freiwillig" meldeten. Dabei wurde den Frauen versprochen, sie kämen nach einem sechsmonatigem Bordelldienst frei. Später selektierte die SS auch Frauen ohne den Charakter des Arbeitskommandos zu nennen.
Es hatte sich herumgesprochen, dass die Frauen nicht frei kamen, außerdem kursierten Gerüchte von furchtbaren Szenen in Lagerbordellen unter den Häftlingen. Daher meldeten sich immer weniger Frauen für das Bordell. Die SS versuchte in erster Linie Frauen zu finden, die vorher schon Prostituierte gewesen waren. Die Errichtung von Lagerbordellen war für die SS ein völliges Novum, sie mussten ja erst Erfahrungen mit der Zwangsprostitution in den KZ sammeln.
sueddeutsche.de: Warum dieser Schein der Freiwilligkeit? Man hätte sie ja auch direkt abtransportieren können.
Sommer: Auf diese Art und Weise wurde die Schuld an die Opfer delegiert. Außerdem konnte man den männlichen Häftlingen suggerieren, die Frauen hätten den Dienst freiwillig gemacht. So wurden potentielle Zweifel von Bordellbesuchern beseitigt und außerdem die Frauen bis zu einem gewissen Punkt gefügig gemacht.
sueddeutsche.de: Was geschah nach der Selektion?
Sommer: Die Frauen wurden zuerst isoliert und in den Krankenbau übergestellt. Hier war für sie ein eigener Bereich eingerichtet; sie wurden mit Höhensonne bestrahlt, mit besserem Essen aufgepäppelt und medizinisch versorgt. Man stellte quasi die Weiblichkeit wieder her, um sie dann später sexuell ausbeuten zu können.
sueddeutsche.de: Wie muss man sich den Alltag im Lagerbordell vorstellen?
Sommer: Tagsüber hatten die Frauen verschiedene Aufgaben. Sie stopften Strümpfe für die SS-Offiziere, sammelten Kräuter oder mussten die Baracke aufräumen. Am Nachmittag hatten die Frauen offiziell "Freizeit", in der sie zum Beispiel lesen konnten. Eine ehemalige Sex-Zwangsarbeiterin beschreibt diese freie Zeit jedoch eher als die lange Zeit des Wartens auf "die verfluchten Stunden am Abend". Nach dem Lagerappell war das Bordell geöffnet, meistens bis zum Zapfenstreich um 22 Uhr. In diesen zwei oder drei Stunden mussten die Frauen in ihren Zimmern auf die Männer warten. Sie durften das Zimmer nicht verlassen und sollten dort den Männern zur "Verfügung stehen".
sueddeutsche.de: Wer durfte das Bordell besuchen?
Sommer: In erster Linie die "reichsdeutschen" Häftlinge, also Deutsche oder auch Österreicher. Später durften auch polnische, tschechische und spanische Häftlinge in das Bordell gehen. Jüdische Häftlinge und sowjetische Kriegsgefangene waren zu jeder Zeit ausgeschlossen. Ebenso gab es auch keine jüdischen Frauen in den Lagerbordellen. Sie waren überwiegend deutscher Herkunft. Aber auch Polinnen, Sowjetbürgerinnen und sogar eine Niederländerin waren unter ihnen.
sueddeutsche.de: War der Besuch im Bordell bestimmten Regeln unterworfen?
Sommer: Der Mann hatte zehn bis 15 Minuten Zeit. Es gab Regeln für den Bordellbesuch: Ein Häftling musste die Hose runterlassen, er durfte nicht mit Schuhen aufs Bett, es sollte nicht geredet werden, erlaubt war nur die Missionarsstellung. Es gab in den Türen Gucklöcher, auf dem Gang patrouillierte ein SS-Mann und überwachte die Einhaltung der Regeln. Häftlinge berichten auch von SS-Leuten, die besonderen Spaß an solchem Voyeurismus hatten. Der Lagerführer des KZ Sachsenhausen, August Kolb, war dafür sehr bekannt.
sueddeutsche.de: War das Bordell trotz dieser unglaublich erniedrigenden Umstände gut besucht?
Sommer: Am Beispiel von Buchenwald kann man sehen, dass das Bordell gerade in der ersten Zeit gut besucht war. Schnell jedoch sanken die Besucherzahlen. Anfangs war das Bordell noch eine gewisse Sensation im Lager. Für Häftlinge, die sich das physisch oder finanziell leisten konnten, war es spannend, dort einmal hinzugehen. Den Häftlingen ging es dabei nicht unbedingt um Sex. Oft wollten die Männer einen menschlichen Kontakt haben, einmal wieder eine Frau sehen oder mit ihr reden. Viele der Häftlinge waren seit Jahren im KZ und der Bordellbesuch stellte den ersten Kontakt mit einer Frau überhaupt dar.
Mit fortschreitendem Krieg waren immer weniger Häftlinge physisch zu einem Bordellbesuch in der Lage. Das Bordellsystem war außerdem entmystifiziert. Viele Männer wussten, dass die Frauen mit falschen Versprechen in das Bordell gelockt oder direkt gezwungen wurden. Außerdem hatte der Ablauf im Lagerbordell nichts mit Erotik zu tun hatte. Der Besuch war ein Akt der sexuellen Ausbeutung unter totaler Überwachung der SS und ein Akt der Erniedrigung. Auch für die Männer.
sueddeutsche.de: Erhöhte das Lagerbordell die Chance der Frauen aufs Überleben?
Sommer: Ja, denn sie bekamen mehr Nahrung als andere Häftlinge, teilweise sogar Rationen, die sonst nur der SS zustanden. Außerdem gab es männliche Häftlinge, welche die Frauen mit extra Nahrungsmitteln versorgten. Die Frauen waren nicht den ständigen Schlägen der SS ausgesetzt und mussten keine körperlich schwere Arbeit verrichten. Auf diese Art und Weise konnten sie eher überleben. Es gibt keinen belegten Todesfall einer Frau im Lagerbordell.
sueddeutsche.de: Wie ging das Leben nach dem Krieg für diese Frauen weiter?
Sommer: Das größte Problem der Frauen bestand nach dem Krieg darin, dass die meisten von ihnen ehemalige sogenannte Asoziale waren und nach dem Bundesentschädigungsgesetz kein Anrecht auf Entschädigung hatten. Sie galten nicht als politische oder "rassisch" Verfolgte des NS-Regimes.
sueddeutsche.de: Wurde die Entschädigungsfrage in den verschiedenen Besatzungszonen unterschiedlich gehandhabt?
Sommer: In der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR wurde die Entschädigung von ehemaligen "Asozialen" an einer erfolgreichen "Re-Integration" in die Gesellschaft festgemacht. Es ist kein Fall der Entschädigung einer Sex-Zwangsarbeiterin in der DDR bekannt. In der BRD gab es zwar Fälle von Frauen, die tatsächlich Entschädigungsanträge stellten, jedoch verschwiegen sie den Aufenthalt in einem KZ-Bordell. Es ist nur ein einziger Fall bekannt, in dem eine Überlebende dies in einem solchen Antrag explizit erwähnte. Ihr Antrag wurde jedoch abgelehnt. In der Begründung heißt es, ihr Anspruch sei verjährt.
sueddeutsche.de: Wieso schwiegen die Frauen?
Sommer: Aus Angst vor einer weiteren Stigmatisierung. Die meisten Frauen haben ihren Aufenthalt im Lagerbordell zum größten Teil für sich behalten, es wurde zu einem wohlgehüteten Geheimnis. Unter den nichtdeutschen Zwangsprostituierten wäre der Vorwurf der Kollaboration mit dem Feind erhoben worden. Für die Frauen selbst wäre das eine besondere Schande gewesen und hätte zur sozialen Ausgrenzung geführt. Nur wenige haben je darüber gesprochen und meist erst nachdem sich Aktivistinnen für sie als vergessene Opfer des Nationalsozialismus eingesetzt hatten.