Nach der Wahl in Hessen:Die Stimmung in der SPD ist zum Zerreißen angespannt

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  • Nach dem Wahldebakel in Hessen will SPD-Chefin Nahles einen Fahrplan für die Bundespolitik vorlegen.
  • Die Stimmung an der Basis dreht sich eindeutig gegen die große Koalition in Berlin.
  • Doch an der Parteispitze wissen sie: Wenn die SPD jetzt die Regierung verlässt, müsste sie sich Neuwahlen stellen - gerade wenn sie am verwundbarsten ist.

Von Mike Szymanski, Berlin

Mechanisch-kühl trägt Andrea Nahles um 18.44 Uhr im Willy-Brandt-Haus die nächste Niederlage vor. In Hessen hat die SPD wieder eine Wahl verloren. Sie kommt auf wohl nicht einmal mehr 20 Prozent. Wie die künftige Regierung in Hessen aussehen wird, ist um diese Uhrzeit noch unklar. "Vieles ist möglich", sagt Nahles. Aber das gilt irgendwie nicht für ihre SPD. Diese sei "sehr gut aufgestellt" gewesen, sagt Nahles. Und Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel habe "nichts falsch" gemacht. Es ist bemerkenswert, wie sie ihren Parteikollegen in Schutz nimmt. Es ist das einzige, was sie jetzt noch für ihn tun kann. Schwer vorstellbar, dass Schäfer-Gümbel nach seinem dritten Anlauf noch einmal eine Chance in Hessen bekommen wird. Und Nahles?

Sie zeigt, anders als nach dem katastrophalen Abschneiden in Bayern, nicht zuerst auf die große Koalition in Berlin, wenn sie Gründe für das Scheitern ausmacht. Sie kritisiert zunächst sich und ihre Partei. Sie müsse jetzt schneller ihren Erneuerungsprozess abschließen. Eigentlich wollte sie sich bis Ende nächsten Jahres Zeit nehmen, Positionen zu klären, sich zu modernisieren. "Diese Zeit haben wir nicht", sagt Nahles jetzt. Natürlich geht sie auch auf die Koalition ein. Der Zustand der Regierung sei "nicht akzeptabel". In den Gremien, die an diesem Montag zusammenkommen, will sie einen Fahrplan vorlegen, welche Ziele die Regierung bis Mitte der Legislatur erreichen will. Wieder mal: ein Plan.

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Falls dessen Umsetzung bis zur "Halbzeitbilanz" der Regierung nicht gelinge, müsse die SPD überlegen, ob sie in der Koalition noch "richtig aufgehoben" sei. "Wir legen unser Schicksal nicht in die Hände der Koalitionspartner", sagt Nahles weiter.

Die Stimmung in der Partei ist zum Zerreißen angespannt. Schon vor der Abstimmung an diesem Sonntag hatte Nahles betont, es würde sich keineswegs um eine Schicksalswahl handeln. Aber genau das ist aus dieser Wahl geworden - eine Schicksalswahl für Andrea Nahles.

In der Partei war klar, was Nahles zu liefern hat: Ein "achtbares" Ergebnis. Das bedeutete: Nicht weniger als 20 Prozent. Nicht schwächer als die Grünen. Früher wäre das für die SPD in Hessen kein Problem gewesen. Nun aber liegt die SPD am späten Abend unter 20 Prozent - und die Grünen fast gleichauf. Aber im Bund kommt die Partei in den Umfragen eben nur noch auf etwa 15 Prozent. Und die Bayernwahl, bei der die Partei nur 9,7 Prozent der Stimmen erhielt, hatte gezeigt, dass die Furcht vor der Bedeutungslosigkeit begründet ist. Die Bayern-SPD hatte weitgehend auf eigene Rechnung gearbeitet. Bei den Hessen aber steht Nahles voll und ganz in der Mitverantwortung. Spitzenkandidat Schäfer-Gümbel hatte sich immer eng mit der Parteizentrale in Berlin abgestimmt. Seinen Wahlkampf hatte er gut vorbereitet. Er war fleißig. Nach 19 Jahren Opposition standen die Chancen lange gar nicht so schlecht, dass die SPD in Hessen endlich wieder an die Regierung kommen könnte.

Nahles selbst hatte nach dem Desaster in Bayern die Parole ausgegeben, erst mal sei der Wahlkämpfer Schäfer-Gümbel zu unterstützen. Danach werde man sich, wie in der Partei in den vergangenen Tagen oft zu hören war, "die Karten legen". Für Montag in einer Woche ist eine Aussprache angesetzt, um über Fehler zu reden. Aber wer die Partei kennt, weiß: Die Schonfrist für die Parteispitze ist jetzt vorbei.

In der SPD werden gedanklich schon länger mehrere Szenarien durchgespielt, wie mit dem Ausgang der Wahl umzugehen ist. Im besten Fall gewinnt Nahles Zeit - für sich, und für ihre SPD. Das hat sie aber nur erreicht, wenn die SPD sich in Hessen Machtoptionen offenhalten kann und möglichst nicht hinter den Grünen liegt. Alles andere löst schon Alarmstufe Rot aus - dann könnte es schneller als gedacht darum gehen, ob Nahles nach nur einem halben Jahr an der Parteispitze noch zu retten ist. Und auch darum, ob es mit der großen Koalition weitergehen kann. Die Frage einer Fortsetzung der Groko hat sich längst von Nahles als Person abgekoppelt. Es gibt ein Leben in der Groko - auch ohne Nahles.

Die Vorsitzende weiß das. Allem Ärger zum Trotz gibt es in der Partei- und Fraktionsspitze Stimmen, die bereit sind, in der großen Koalition weiterzumachen. Die Vertreter dieser Denkschule argumentieren: Derart geschwächt, wie die SPD ist, würde sie in der Opposition nur weiter absteigen. Wenn die inhaltliche Politik gar nicht so schlecht ist - wie viele das sagen -, dann muss es eben auch an der Führung liegen, dass die Partei davon nicht profitieren kann. Der Blick wandert dann in die Länder, wenn nach möglichen Nachfolgern gefahndet wird: Zu Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil etwa oder zu Manuela Schwesig, Regierungschefin in Mecklenburg-Vorpommern.

Das Problem ist nur: Hat die Partei alles unter Kontrolle, wenn sie den Umbau angeht? Parteivize Ralf Stegner warnt schon vor Personaldebatten. Die SPD solle jetzt bloß nicht anfangen, sich selbst zu zerlegen. An der Basis dreht die Stimmung eindeutig gegen die Groko. Damit aber bliebe in der SPD wohl kein Stein mehr auf dem anderen: Sie ginge geschlagen aus dem Bündnis heraus und müsste wahrscheinlich in einer Neuwahl bestehen. Und das ausgerechnet dann, wenn sie am verwundbarsten wäre. Das wissen auch Groko-Gegner wie der Juso-Chef Kevin Kühnert. Er könnte jetzt sagen: Uns reicht es. Macht er aber nicht, jedenfalls nicht am Wahlabend im Willy-Brandt-Haus. Da findet er die Idee des Fahrplans ganz gut. Hauptsache, man lege mal fest, wann was komme. In "drei, vier Monaten" will er erste Ergebnisse sehen. Die Zeit der Groko scheint also noch nicht abgelaufen zu sein. Und Nahles scheint trotz allem fest entschlossen zu sein, noch einmal um diese Koalition kämpfen zu wollen.

© SZ vom 29.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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