Halle-Attentäter Stephan B.:Schwer zu fassen

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Gerichtssaal im Landgericht Magdeburg, wo der Prozess gegen den Halle-Attentäter stattfindet. (Foto: dpa)

Der Prozess gegen den Rechtsextremisten zeigt die Probleme der Justiz, sich einem Täter zu nähern, der fern der Realität lebt. Die Ermittlungsbehörden scheinen überfordert zu sein.

Von Antonie Rietzschel, Magdeburg

Der angeklagte Attentäter Stephan B. hatte keine Freunde, keine Partnerin, keine Kollegen. Sein Studium brach er nach einer schweren Operation ab, lebte in der Wohnung der Mutter in seinem Kinderzimmer, das er selten verließ. Acht Quadratmeter, Tisch, Schrank, Bett - und sein Computer.

Wie nähert man sich einem Mann, der sich der realen Welt verschließt? Im Prozess gegen Stephan B., der im vergangenen Jahr einen Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle verübte, hat die Familie Gebrauch von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht gemacht.

Zu Beginn des siebten Prozesstages am Landgericht Magdeburg tritt deswegen die Leiterin der Grundschule in Helbra auf, wo Claudia B., die Mutter von Stephan B., neun Jahre als Lehrerin arbeitete. Stephan B. kennt die Schulleiterin nur vom Sehen. Er begleitete seine Mutter, als die im Sekretariat eine Krankschreibung abgab. Freundlich sei er gewesen. Die Direktorin beschreibt Claudia B. als vorbildliche Lehrerin. "Fachlich, sachlich, korrekt", sagt sie. "Man konnte sich auf sie verlassen."

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Die Schule, an der Claudia B. arbeitete, ist klein. Wenn die Kinder Frühstückspause haben, trinken die Lehrer einen Tee zusammen, erzählt die Zeugin. Claudia B. sei nicht sehr aufgeschlossen gewesen. Wenn sie redete, dann vor allem über ihren Sohn. Dass er viel im Internet unterwegs sei, im Koran lese und nur noch Englisch mit ihr rede. "Sie hat sich Sorgen gemacht", sagt die Schulleiterin. Umso größer die Freude, als Stephan B. ein Hobby fand: schweißen.

Die Zeugin kommt schließlich auf die Veränderungen zu sprechen, die sie 2019 bei der Kollegin wahrnahm. Dünnhäutig sei sie gewesen. "Ich habe Angst, dass bald etwas ganz Schlimmes passieren wird", soll sie während einer Raucherpause zu einer Kollegin gesagt haben. Wenige Monate später zog ihr Sohn mit mehreren Waffen los, einige hatte er selbst gebaut. Er tötete zwei Menschen. Die Tat streamte er live ins Internet. Mit seinem imaginären Publikum sprach er Englisch - so wie er es offenbar mit seiner Mutter getan hatte.

Claudia B. schrieb nach der Tat einen Brief, voller Verzweiflung, aber auch voller Hass. Sie habe ihren Sohn ins Leben zurückholen wollen, heißt es da. "Sie" hätten ihn "mir zerstört". Claudia B. stellt eine Verbindung zu Juden her. Die hätten freie Hand. Und Stephan, ihr Sohn, "wollte nur eins, die Wahrheit".

Nach dieser angeblichen Wahrheit suchte Stephan B. im Internet auf sogenannten Imageboards, Internetforen, in denen Nutzer pornografische, antisemitische und rechtsextreme Inhalte hochladen können.

Der Attentäter von Christchurch postete bei 8chan, einem Forum, das kurzzeitig offline war und mittlerweile anders heißt. Stephan B. war auf drei Plattformen aktiv, darunter vch.moe und Nanochan. Auf seinem PC, dem Laptop und zwei USB-Sticks fanden die Ermittler Tausende Dateien, die er heruntergeladen hatte. Darunter die Zeichnung eines Mannes, der mit dem Schwert auf einem Berg auf Leichen steht, dahinter die brennende Israelflagge.

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Zu sehen sind auch Bilder von Zeichentrickfiguren, die Hakenkreuzbinden tragen. Ob Stephan B. selbst Inhalte veröffentlichte, ist unklar. Die Nutzer von Imagebords müssen sich nicht anmelden, bleiben anonym. Sie kommen aus den USA, Australien oder eben Sachsen-Anhalt. Entsprechend dünn sind die Erkenntnisse, die BKA-Ermittler an diesem Prozesstag über Stephan B. vorzuweisen haben, einem Mann, der praktisch im Internet lebte.

Ein Täter wie er, der sich im Netz radikalisierte, scheint die Ermittlungsbehörden zu überfordern. Das zeigt der Auftritt einer BKA-Mitarbeiterin. Stephan B., der seine Tat mit der Kamera wie ein Videospiel inszenierte, hatte bei Steam, einer Vertriebsplattform für Videospiele, zwei Accounts.

Er spielte Ego-Shooter, baute per Computersimulation Waffen zusammen und auseinander. Es gebe keine Hinweise, dass es sich um Formate handelt, die bevorzugt von Rechtsextremen gespielt würden, erklärt die BKA-Mitarbeiterin. Ob sie überprüft habe, inwiefern man bei den Ego-Shootern speziell "deutsche Kampagnen" spielen könne, fragt eine Nebenklageanwältin. Die BKA-Mitarbeiterin verneint.

Ob man versucht habe, Spielstände des Angeklagten abzufragen, um zu ermitteln, welche Kampagnen er gespielt habe. Auch hier muss die BKA-Frau passen. Auf die Frage, inwiefern sie überhaupt Kenntnisse über die Funktion der Vertriebsplattform habe, antwortet sie: "Ich bin keine Gamerin." Eine weitere Nebenklageanwältin legt nach: "Das BKA hat Sie mit der Auswertung beauftragt, obwohl Sie keine Kenntnisse von Steam und kein Wissen über Gaming haben." Es ist weniger Frage als bittere Erkenntnis. Die Zeugin überlegt, dann sagt sie: "Ja".

© SZ vom 27.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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