Nach dem gescheiterten Anschlag auf eine Synagoge in Halle in Sachsen-Anhalt will Bundesinnenminister Horst Seehofer am Donnerstag über den Ermittlungsstand informieren. Für Mittag wird Seehofer an der Synagoge in Halle erwartet, für 15 Uhr ist eine gemeinsame Pressekonferenz mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff und Landesinnenminister Holger Stahlknecht (beide CDU) geplant. Ungeklärt ist bislang unter anderem die Identität der beiden Opfer. Unbestätigt ist auch, ob ein im Internet aufgetauchtes Bekennervideo und ein angebliches "Manifest" tatsächlich vom mutmaßlichen Täter stammen.
Wie NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung aus Sicherheitskreisen erfuhren, heißt der festgenommene mutmaßliche Täter Stephan B. und ist deutscher Staatsbürger. Der offenbar rechtsextreme Mann soll die Synagoge angegriffen und, als er nicht in das Gebäude eindringen konnte, zwei Menschen erschossen haben, auf der Straße und in einem Döner-Imbiss. Er drehte ein Video von der Tat und stellte es ins Internet. Das Vorgehen erinnert nach Angaben von Terrorexperten an das desjenigen Mannes, der im März im neuseeländischen Christchurch in zwei Moscheen 51 Menschen erschossen hatte. Der Täter in Halle griff am höchsten jüdischen Feiertag an, dem Versöhnungsfest Jom Kippur. Am Nachmittag nahm die Polizei einen Tatverdächtigen fest, machte aber zunächst keine Angaben zu seiner Identität.
Nach Anschlag:Halle trauert
Nach dem Anschlag mit zwei Toten versammeln sich am Abend Hunderte Menschen, um gemeinsam zu trauern. Bilder aus einer getroffenen Stadt.
Nach den bisherigen Erkenntnissen der Ermittler handelt es sich wohl um einen Einzeltäter, wobei weiter nach möglichen Helfern gesucht wird. Bundesinnenminister Seehofer sagte, nach Einschätzung des Generalbundesanwalts gebe es bei dem Angreifer "ausreichend Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund" und für "einen antisemitischen Angriff". Seehofer reist am Donnerstagnachmittag in die Stadt.
Der Täter filmte beide Angriffe und lud das Video beim Livestreaming-Dienst Twitch hoch. Kurze Zeit später löschte Twitch die Aufnahme. Auf dieser leugnet der junge Mann mit Glatze auf Englisch den Holocaust und nennt Juden "die Ursache aller Probleme". Das Video, aufgenommen von einer Helmkamera, zeigt auch die Anschläge auf die Synagoge und den Dönerladen aus nächster Nähe. In der von der Polizei trotz des hohen Feiertags nicht gesicherten Synagoge schaffte er es nicht, die Eingangstür zu überwinden; kurz darauf erschoss er eine Frau. Im Dönerladen erschoss er einen Mann, dann versagten seine offenbar selbstgebauten Waffen. Später feuerte er auf ein Polizeiauto.
Bisher gab es keine Bestätigung der Behörden zu den Umständen von Flucht und Festnahme oder dafür, dass es sich bei dem Mann, der sich im Video zeigt, um den Attentäter handelt.
Zentralrat der Juden reagiert mit "Entsetzen und tiefer Erschütterung"
In Halle spielten sich am Mittwochnachmittag dramatische Szenen ab. Eines der Opfer lag in der Nähe der Synagoge lange auf der Straße. Die Stadtverwaltung sprach zunächst von einer "Amoklage", die Polizei vermutete mehrere Täter und rief die Bevölkerung auf, in den Häusern zu bleiben. Zum Zeitpunkt der Todesschüsse war das jüdische Gotteshaus voll besetzt, wie der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, sagte. Die Besucher konnten die Synagoge am Abend verlassen.
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, reagierte "mit Entsetzen und tiefer Erschütterung" auf das Attentat. Die Brutalität des Angriffs übersteige "alles bisher Dagewesene der vergangenen Jahre" und sei "für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock". Die Tat am höchsten jüdischen Feiertag habe "unsere Gemeinschaft auf das Tiefste in Sorge versetzt und verängstigt"; das Mitgefühl des Zentralrats gelte den Angehörigen der Erschossenen und den Verletzten. Scharf kritisierte Schuster, "dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war". Dies sei skandalös.
Privorozki von der Jüdischen Gemeinde in Halle warf der Polizei eine zu langsame Reaktion beim versuchten Angriff auf die Synagoge vor. "Die waren zu spät vor Ort", sagte er in einem Video, das am Mittwoch vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus auf Twitter veröffentlicht wurde. Nach seinem Anruf habe es mindestens zehn Minuten gedauert, bis die Polizei da gewesen sei.
Auch in Landsberg, etwa 15 Kilometer östlich von Halle gelegen, sollen Schüsse gefallen sein. Kurz nach den Angriffen wurde das kleine Örtchen abgeriegelt. Mehrere Häuser sollen durchsucht worden sein. Mit Maschinenpistolen in den Händen gingen Polizisten durch die Straßen des Ortsteils Wiedersdorf. Auch am frühen Morgen dauerte die Spurensicherung noch an, sagte ein Polizist am Ort. Die Sperrzone wurde demnach allerdings mittlerweile verkleinert, voraussichtlich gegen sieben Uhr soll sie aufgehoben werden. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe hat die Ermittlungen übernommen.
Beim Lichtfest in Leipzig zum 30. Jahrestag des Auftakts der friedlichen Revolution in der DDR sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: "Aus einem Tag der Freude ist ein Tag des Leids geworden." Er rief zur Solidarität mit jüdischen Mitbürgern auf. Das Fest, zu dem sich mehrere Tausend Menschen auf dem Augustusplatz versammelt hatten, begann mit einer Schweigeminute für die Opfer von Halle. Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte am Abend eine Solidaritätsveranstaltung an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin. Außenminister Heiko Maas schrieb auf Twitter: "Dass am Versöhnungsfest #YomKippur auf eine Synagoge geschossen wird, trifft uns ins Herz." Maas fragte: "Wann hört das auf? Warum geschieht das in unserem Land?"
Israels Präsident Reuven Rivlin appellierte an Deutschland, Antisemitismus mit der vollen Härte des Gesetzes zu bekämpfen. Dieser bedrohe in Europa und weltweit nicht nur die Juden, er drohe "uns alle zu zerstören". Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, sagte, die Katholiken stünden "solidarisch an der Seite der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger". Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, sagte, die Deutschen dürften nicht zulassen, dass Juden "in unserem Land ihren Glauben in Angst und Unsicherheit leben müssen".