Haiti:Machtkampf mitten im Chaos

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In Haiti ist Chaos ausgebrochen, die Sicherheitskräfte kommen kaum dagegen an. (Foto: Ralph Tedy Erol/Reuters)

Während in Haiti weiterhin kriminelle Banden die Bevölkerung terrorisieren, streiten Politiker darüber, wer in dem bitterarmen Karibikstaat künftig die Kontrolle haben soll.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Es war noch früher Morgen als eine Gruppe schwer bewaffneter Männer begann, in den Straßen von Pétionville wild um sich zu schießen. Das Viertel liegt etwas außerhalb der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince und bislang war es von Gang-Gewalt weitestgehend verschont geblieben. Am Montag aber hallten Schüsse durch die Gassen und später berichteten Anwohner von blutüberströmten Leichen und geplünderten Häusern.

Vor drei Wochen geriet die schon davor angespannte Sicherheitslage in Haiti vollends außer Kontrolle. Kriminelle Banden, die sich zuvor lange gegenseitig bekämpft hatten, schlossen sich zusammen. Geschäfte wurden überfallen und Polizeistationen in Brand gesteckt. Mehrere Tausend Häftlinge konnten aus Gefängnissen fliehen.

Hunderttausende leben auf der Straße

Seitdem eskaliert die Gewalt. Kurz nachdem Banden am Montagmorgen im Vorort Pétionville Angst und Terror verbreitet hatten, griff eine Gruppe bewaffneter Männer die Zentralbank im Zentrum von Port-au-Prince an. Bei einem Feuergefecht mit Polizei und Wachleuten gab es mehrere Tote, ein Mitarbeiter wurde verletzt. Man sei den Sicherheitskräften "zutiefst dankbar", erklärte die Bank später auf ihrem Profil beim Kurznachrichtendienst X. Die Institution ist eine der wenigen staatlichen Einrichtungen, die überhaupt noch arbeitet in Haiti.

Fast die Hälfte der Bevölkerung in dem Land leidet laut Angaben der Vereinten Nationen derzeit unter Hunger. Hunderttausende leben auf der Straße oder in Auffangzentren, nachdem sie ihre Wohnungen oder Häuser verlassen haben auf der Flucht vor Gewalt. Die Lage im Land lasse sich eigentlich nur mit Szenen aus dem postapokalyptischen Film "Mad Max" vergleichen, sagte die Leiterin des UN-Kinderhilfswerks, Catherine Russell, dem Fernsehsender CBS: "Die Menschen leiden, und wir sind nicht in der Lage, ihnen genügend Hilfe zukommen zu lassen."

Viele Krankenhäuser haben zugemacht

Weil Benzin für Generatoren fehlt und medizinisches Material bei Überfällen gestohlen wurde, haben viele Krankenhäuser ihren Betrieb eingeschränkt oder sogar ganz eingestellt. Länder wie die USA und auch Deutschland haben mittlerweile aus Sicherheitsgründen Botschaftspersonal abgezogen. Der Flughafen in Port-au-Prince war auch Anfang dieser Woche wegen Bandenangriffen geschlossen, was die Einfuhr von Lebensmitteln und Hilfsgütern erschwert. Gleichzeitig teilte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen am Wochenende mit, dass einer seiner Container im Haupthafen von Haiti geplündert worden ist.

Wie es weitergeht mit dem von Krisen, Kriminalität und Katastrophen geplagten Karibikstaat, ist dabei weiterhin vollkommen unklar: Der Einsatz einer von den Vereinten Nationen unterstützten und von Kenia geführten Polizeitruppe liegt derzeit auf Eis - zumindest so lange, bis sich eine neue Regierung für das Land gebildet hat.

Es gibt keinen Präsidenten und kein Parlament

Es gibt heute in Haiti keinen gewählten Amtsträger mehr, keinen Präsidenten und auch kein Parlament. Nachdem im Juli 2021 das damalige Staatsoberhaupt Jovenel Moïse unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet wurde, übernahm eine Übergangsregierung die Macht. Interims-Ministerpräsident Ariel Henry genoss dabei zwar die Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft und vor allem auch der USA. Im Land selbst aber war er höchst umstritten. Neuwahlen wurden immer weiter verschoben wegen der sich stetig verschlechternden Sicherheitslage.

Als Henry dann Ende Februar zu einer Auslandsreise nach Kenia aufbrach, eskalierte die Gewalt: Banden forderten offen den Rücktritt des Interims-Premierministers und drohten, Haiti andernfalls in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Henry konnte nicht einmal mehr in seine Heimat zurückkehren und erklärte sich schließlich bereit, die Macht abzugeben - allerdings erst, wenn ein Übergangsrat eingesetzt ist, bestehend aus Parteien und Vertretern der Zivilgesellschaft.

Bislang aber ist nicht einmal klar, wer die Mitglieder dieses Rates sein werden. In den unterschiedlichen Parteien selbst und zwischen den Gruppierungen sind Machtkämpfe entbrannt, einige Akteure haben sich teilweise auch schon ganz aus dem Prozess zurückgezogen. Es geht um Stimmrechte, Einfluss, Kontrolle und die zukünftige Macht im Land. Immer weiter ziehen sich die Verhandlungen hin, dabei sind sich Experten sicher, dass der schwerste Teil der Arbeit noch gar nicht begonnen hat: Denn das Gremium ist nur eine Vorstufe für eine neue Regierung. Seine Mitglieder sollen einen provisorischen Ministerrat bestimmen und auch einen Übergangspremierminister. Irgendwann sollen dann auch Wahlen stattfinden, vorausgesetzt natürlich, die Sicherheitslage in Haiti erlaubt es. Derzeit sieht es nicht danach aus.

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