Annalena Baerbock:Und plötzlich hören wieder alle zu

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Baerbock will Politik auch für Menschen machen, die wie sie selbst "zwischen Zuckerrüben auf dem platten Land aufgewachsen" sind. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Mit 98,5 Prozent bestätigen die Grünen Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin. Vieles in ihrer Rede klingt bekannt, bis sie eine persönliche Geschichte erzählt. Am Ende flucht sie.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Sie hat also beschlossen anzugreifen, zu kämpfen. Aber es dauert nicht lang, da sieht man Annalena Baerbock wie erstarrt zwischen Blumen sitzen. Eben ist sie mit sagenhaften 98,5 Prozent als Kanzlerkandidatin der Grünen bestätigt worden. Dann hat sie eine Rede gehalten, die ein Befreiungsschlag werden sollte. Aber sie wirkt nicht befreit, ganz im Gegenteil. Als sie mit Robert Habeck zum Sitzen kommt in der Parteitagshalle der Grünen und vor Sommerblumen, da gelingt der grünen Spitzenfrau nur ein sehr angestrengtes Lächeln. Die andere, die Mitreißerin Annalena Baerbock, sie muss irgendwo anders unterwegs sein.

Tag zwei des digitalen Grünen-Parteitags in Berlin, in einer ehemaligen Lagerhalle unter einem Kreuzberger U-Bahnhof haben hundert Neumitglieder der Partei beschlossen, ihre Kanzlerkandidatin wieder nach vorn zu feiern, in die Zone der Zuversicht. Sie applaudieren, sie johlen, sie schlagen minutenlang die Hände zusammen, damit losgeht, was mal kaum noch aufzuhalten schien: der grüne Bundestagswahlkampf, der die Partei im Herbst auf Platz eins führen soll und Parteichefin Annalena Baerbock zur Kanzlerschaft, jedenfalls theoretisch.

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Der ersten Frau der Grünen, so viel steht fest, wird bei diesem Parteitag mehr Rückhalt signalisiert, als eine Spitzenkandidatin sich wünschen kann. Das dürfte auch nötig sein, denn Baerbock wird eine Menge Kraft brauchen und noch mehr Glück, um zurückzufinden auf die Reiseroute, die sie verlassen hatte. Nach einem Raketenstart und der Verkündung der grünen Kanzlerkandidatur, nach nie gekannten grünen Umfragewerten und mehr Zuspruch, als eine Politikerin für gewöhnlich bekommt, ist Baerbocks Aufstieg jäh abgebremst worden, von ihr selbst. Erst musste sie vergessene Nebeneinkünfte anmelden, dann eine Reihe von Angaben in ihrem Lebenslauf präzisieren.

Was im Normalbetrieb vermutlich als lässliche Schlamperei durchgegangen wäre, erweist sich in der Aufbruchsphase des Bundestagswahlkampfs als ernster grüner Unfall. Von einem Stahlbad für die Kanzlerin in spe ist hinter den grünen Kulissen jetzt die Rede, wahlweise auch von einer Feuertaufe. Denn Baerbocks Glaubwürdigkeit hat Schaden genommen.

"Robert, dich da an meiner Seite zu sehen, das hat Kraft gegeben und volle Power"

Beim Parteitag steht also vor allem die Frage im Raum, ob und wie es Baerbock gelingt, den Blick wieder nach vorn zu richten, hin zur Offensive. Denn das hatte die Kanzlerkandidatin angekündigt: kämpfen zu wollen. Und sie kämpft, als sie am Nachmittag vor den Parteitag tritt, um ihren Leuten, aber auch dem Land, eine Ansage zu machen. Was dann kommt ist allerdings kein Feuerwerk neuer Ideen, auch keine Entschuldigung für die begangenen Fehler, sondern der Versuch, irgendwie durchzukommen.

"Vielen Dank für dieses wahnsinnige Ergebnis. Vielen Dank für den Rückenwind nach dem Gegenwind der letzten Wochen, wo wir, vor allem ich, Fehler gemacht habe, über die ich mich tierisch geärgert habe", sagt Annalena Baerbock. Dann wendet sie sich nach links, wo ihr Spitzenteamkollege Robert Habeck im Publikum sitzt. "Robert, dich da an meiner Seite zu sehen, das hat Kraft gegeben und volle Power." War's das schon mit Erklärungen? Ja, das war's schon.

Baerbock bricht jetzt auf in eine Rede, die von der "Zuversicht des Handelns" handelt und vom "Zutrauen, dass es besser sein kann". Gemeint ist das Land, das Veränderungen auf sich zukommen sehe, aber zu wenig Vertrauen habe, sie auch bewältigen zu können. Das ließe sich natürlich auch über Baerbocks eigene Lage sagen, weshalb die folgenden Ermutigungen auch als Selbstertüchtigung verstanden werden könnten.

Es geht, ist da die Botschaft, auch gegen erhebliche Widerstände. "Wir haben das Auto erfunden und in die ganze Welt exportiert. Wir haben die Erneuerbaren groß gemacht", ruft Baerbock in den Saal. Ihr Ziel sei "klimagerechter Wohlstand" für alle, der sich nicht gegen die Markwirtschaft, sondern mit der Kraft einer "sozial-ökologischen Marktwirtschaft" erreichen lasse. "Wir schlagen der deutschen Industrie einen Pakt vor", sagt sie. "Es geht um eine verbindliche Verabredung, dass der Saat den Unternehmen die Kosten ausgleicht, die sie zusätzlich noch erbringen müssen, wenn sie klimaneutral werden wollen." Es fehlt nicht an Verbrüderungsangeboten an die Wirtschaft in dieser Rede. Aber auch das mittelständische Unternehmen, das klimaneutralen Stahl herstellt, kommt zu Ehren, bevor Baerbock aufs Feld der Gerechtigkeit abbiegt.

Klimaneutrales Leben, das könne nicht nur für Bessergestellte in der Stadt die Zukunft sein, sagt sie, sondern auch für Stahlarbeiter oder Menschen, die wie sie selbst "zwischen Zuckerrüben auf dem platten Land aufgewachsen" seien oder stundenlang auf den nächsten Bus warten müssten. Höhere Abgaben und CO₂-Preise, Mehrkosten für Klimaneutralität müssten Menschen mit geringem Einkommen zurückerstattet, ein sozialer Ausgleich geschaffen werden. Gute Politik, das sei "die Lebensrealität aller Menschen im Blick zu haben".

Es ist eine stark am Sozialen orientierte Rede, die die Spitzenkandidatin am Samstag hält. Öffentliche Grundversorgung, mehr Unterstützung für benachteiligte Kinder, Sicherheit bei der Lebensplanung - allerlei Erbhöfe der politischen Konkurrenz werden da grün besetzt. Auch ein starkes Europa und mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit autoritären Systemen wird Baerbock später noch anmahnen. Manches, was sie sagt, hat man schon mal gehört, anderes auch schon mehrfach. Die ersten Zuschauer ziehen die Mobiltelefone heraus. Da beginnt sie unversehens und sehr persönlich über ihre Mutter zu sprechen. Und schon hören wieder alle zu.

"Als meine Mutter eingeschult wurde, traf sie ein furchtbarer Schicksalsschlag, weil ihre ältere Schwester bei einem Unfall tödlich verletzt wurde", erzählt Annalena Baerbock. Statt die Erstklässlerin zu unterstützen, habe eine Lehrerin empfohlen, sie von der Schule zu nehmen, "weil sie lernschwach sei". Es sei Baerbocks Großmutter gewesen, die durchgesetzt habe, dass das Mädchen Mittlere Reife machte und später eine Ausbildung als Erzieherin. Zwei Kinder und etliche Hausfrauenjahre später sei ebendiese Mutter zurückgekehrt in den Beruf, habe mit viel Geschick auch Familien in Not beraten. "Was wäre es für ein Verlust für alle diese Familien gewesen, hätte meine Mutter nicht die Chance gehabt, aus dem selbst Erlebten noch die Kraft zu schöpfen, anderen etwas mitzugeben?"

Nicht jammern, nicht verzagen, manche kommen eben später zum Ziel, und für die Sorgen anderer muss immer noch ein Quäntchen Kraft übrig sein. Das ist der rote Faden durch diese Geschichte. "Dem Wohle aller zu dienen, das ist unser Kompass", sagt Baerbock noch. Da jubeln sie im Saal und applaudieren, lange, und später wird es noch lauter, nach diesem Satz: "Erstmals seit Jahrzehnten liegt echter Wechsel in der Luft." Als es vorbei ist, kommt Robert Habeck und geleitet Annalena Baerbock galant von der Bühne. "Scheiße", sagt sie leise zu ihm. Weil sie an einer Stelle der Rede kurz hängengeblieben ist. Die Kandidatin sieht jetzt aus, als sei ihr zum Heulen.

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