Es hätte alles so schön werden können, jedenfalls aus grüner Sicht. Ein Jubelparteitag war da geplant, eine Krönungsmesse für Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und ihren Prinzgemahl Robert Habeck. Ganz so glatt aber werden die Dinge wohl nicht laufen. Am Freitagnachmittag beginnt der Bundesparteitag der Grünen, bei dem das Programm für die Bundestagswahl verabschiedet und das grüne Spitzenteam bestätigt werden soll. Was da kommt, riecht nicht nach Stunk, wohl aber nach Arbeit.
3280 Änderungsanträge hat die grüne Basis der Parteiführung in den letzten Wochen und Tagen vor die Füße gekippt. So viel Mitsprachebedarf gab es nie vor einer grünen Bundesdelegiertenkonferenz, auch selten so viel Gestaltungswut. Sie dürfte auch der Tatsache geschuldet sein, dass die Grünen ihre Mitgliederzahl erheblich vergrößert haben. Viele der Parteineulinge wollen da wohl ihr Engagement unter Beweis stellen. Im Aufgalopp zur Bundestagswahl sehen viele Delegierte aber offenbar auch die Jahrhundertchance, mit einem Änderungsantrag Einfluss aufs Weltgeschehen zu nehmen oder doch wenigstens auf den Kurs der nächsten Bundesregierung.
Grünen-Kanzlerkandidatin im TV-Interview:Vertrauen ist gut, Verhör besser
Annalena Baerbock soll in der ARD "Farbe bekennen". Und die dümmsten Sätze kommen nicht von der Kanzlerkandidatin, sondern von den Fragenden.
Denn zum ersten Mal in ihrer Geschichte haben die Grünen so viel Zuspruch, dass sie die Kanzlerschaft in Deutschland beanspruchen können. In früheren Jahren wäre das als Sensation gewertet worden. Gleichzeitig war Parteichefin Annalena Baerbock aber auch schon mal deutlich näher dran an eben dieser Kanzlerschaft, wenigstens gefühlt. Nach Bekanntgabe ihrer Kandidatur rauschten die grünen Umfragewerte zunächst in die Höhe und vorbei an der Union. Was folgte, war das stückweise Eingeständnis, dass nicht alles, was da glänzte, auch belastbar war.
Erst musste Annalena Baerbock dem Bundestag Nebeneinkünfte nachmelden, dann mehrfach Korrekturen an ihrem Lebenslauf vornehmen, bei Mitgliedschaften in Organisationen etwa. Die Verfehlungen waren in der Sache nicht schwerwiegend, in der Wirkung aber schädlich für die Grünen. Auch Baerbock weiß, dass ihre Ungenauigkeiten all denen in die Hände gespielt haben, die sie in bewährter Altväterlichkeit ohnehin für zu unerfahren halten fürs höchste Regierungsamt. Durch Aufpolieren des eigenen Lebenslaufs hat sie aber auch Zweifel an der eigenen Redlichkeit gesät, das räumen auch Grüne ein.
Gemeinsame Abstimmung könnte Baerbock Blessuren ersparen
Gut möglich also, dass die Grünen-Vorsitzende bei ihrer Parteitagsrede am Samstag neben kämpferischen Tönen auch solche des Bedauerns anschlagen wird, sich womöglich sogar bei ihrer Partei entschuldigt. "Das war offensichtlich sehr schlampig", sagte Baerbock schon am Abend vor dem Parteitag in der ARD. "Ich habe da offensichtlich einen Fehler gemacht. Das tut mir sehr, sehr leid, weil es ja eigentlich im Moment um große andere Fragen geht." Allerdings denke sie nicht daran, "sich zurückzuziehen, sich zu verstecken", so die Grünen-Politikerin weiter. "Es geht darum, zu kämpfen."
Der Parteitag dürfte sich alle Mühe geben, Annalena Baerbock in dieser Auffassung zu bestärken. Eine Einzelabstimmung über ihre Kanzlerkandidatur gibt es ohnehin nicht. Die Delegierten stimmen in einem Wahlgang über das "Spitzenduo bestehend aus Annalena Baerbock und Robert Habeck" ab, mit Annalena Baerbock "als Kanzlerkandidatin". Bundesgeschäftsführer Michael Kellner nannte dieses Prozedere eine "sehr, sehr moderne Führung", sie sei eine Stärke der Grünen. Man habe schon vor Monaten geplant, "mit beiden in den Wahlkampf" zu ziehen.
Die gemeinsame Wahl des Spitzenteams sollte ursprünglich wohl dafür sorgen, dass auch Co-Parteichef Robert Habeck angemessen gewürdigt wird bei diesem Parteitag. Denn er war es, der Baerbock den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur lassen musste, notgedrungen. Dass am Samstag über beide Vorsitzende zugleich abgestimmt wird, könnte nun aber auch Baerbock Blessuren ersparen. Man wolle ihr den Rücken stärken, hieß es vor dem Parteitag. Insgeheim hoffen manche Spitzengrüne auch, dass der Dämpfer für die Spitzengrüne der kämpferischen Basis beim Parteitag die Lust am Raufen verleiden könnte. Denn für Selbstgewissheit gibt es keinen Anlass.
Wer hineinhört in die grüne Partei, bekommt nun überall die gleiche Melodie zu hören. Klar, Baerbocks verstolperter Start sei ärgerlich. Aber man werde aus den Fehlern lernen, heißt es. Bei den Grünen habe ohnehin niemand daran geglaubt, bis zum Herbst unangefochten die Hitparaden der Beliebtheit anzuführen. Immer wieder klingen da auch Zweifel durch, dass die Partei auf Platz eins landen wird im Herbst. Für "Verzagtheit" aber sei kein Anlass, ließ Bundesgeschäftsführer Kellner wissen. "Wir sind in Schlagweite zur Union."
Augen geradeaus und voran, ist da jetzt die Losung. Der Parteitag soll das Selbstbewusstsein stärken und die Stimmung aufhellen im eigenen Laden. Vor allem aber wollen die Grünen zurück zur inhaltlichen Debatte und das Bundestagswahlprogramm verabschieden. Der Parteitag könnte dem Bundesvorstand hier aber auch die eine oder andere Überraschung bescheren. Denn obwohl etliche Konfliktfelder im Vorfeld befriedet werden konnten, der Streit über einen bundesweiten Mietendeckel etwa: Es stehen auch etliche Kampfabstimmungen an.
Aktivisten von Fridays for Future ist der CO₂-Preis zu niedrig
Schon am Freitagabend zum Beispiel, nach der Eröffnungsrede von Robert Habeck, wird es ums grüne Allerheiligste gehen, die Klimapolitik. Zum Kapitel "Lebensgrundlagen schützen" gab es allein mehr als 900 Änderungsanträge. Kontrovers ist hier bis zuletzt der CO₂-Preis geblieben. Um die Menschen zu einem sparsameren Umgang mit Öl und Gas zu bewegen, fordert der Bundesvorstand in seinem Entwurf des Wahlprogramms eine Erhöhung des CO₂-Preises auf 60 Euro pro Tonne bis zum Jahr 2023. Danach soll er "im Konzert mit den Fördermaßnahmen und ordnungsrechtlichen Vorgaben" weiter ansteigen, um 2030 die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Den Klimaaktivisten von Fridays for Future reicht das nicht. Eine Gruppe um den Bundestagkandidaten Jakob Blasel fordert einen CO₂-Preis von 80 Euro pro Tonne.
Dass jüngere Klimaaktivisten sich hier gegen das Parteiestablishment durchsetzen, galt vor Beginn des Parteitags als unwahrscheinlich. Baerbock und Habeck haben immer wieder betont, Klimaschutz dürfe nicht allein mit Preispolitik durchgesetzt werden. Auch ordnungspolitische Maßnahmen wie klare Rahmenbedingen für die Industrie, gezielte Fördermaßnahmen und sozialer Ausgleich gehörten dazu.
Sollte der Bundesvorstand beim CO₂-Preis überstimmt werden, dürfte das nicht nur künftige Koalitionsverhandlungen erschweren. Auch potenzielle Wählerinnen und Wähler aus grünenfernen Milieus oder ländlichen Regionen könnten abgeschreckt werden, warnte die Grünenspitze. Eine Spritpreisdebatte in Dauerschleife wünscht sich dort niemand.
Für Zunder könnte aber auch die Grüne Jugend sorgen. Sie fordert einen "grundsätzlichen Neu- und Ausbaustopp" für Autobahnen. Verhandelt wurde bis zuletzt auch über eine Anhebung der Regelsätze bei der Grundsicherung um 200 Euro. Kontroversen gab es zudem über ein Tempolimit und die Forderung der Grünen Jugend zum Spitzensteuersatz. Der Bundesvorstand will ihn für Alleinstehende ab einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro auf 45 Prozent erhöhen. Ab einem Einkommen von 250 000 soll ein Satz von 48 Prozent gelten. Die Grüne Jugend hingegen fordert für die erste Einkommensgruppe einen Spitzensteuersatz von 48 Prozent, für die zweite 53 Prozent.
Ein weiteres Konfliktthema, das die Parteiführung eigentlich umschiffen wollte, soll am Sonntag zur Sprache kommen: die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr. Die Grünen haben unbemanntes Kriegsgerät in früheren Jahren immer abgelehnt. Um Streit über das leidige Thema Krieg zu vermeiden und mit Blick auf eine mögliche Regierungsverantwortung hat die Parteispitze das Thema im Wahlprogramm dann ausgespart.
Robert Habecks Reise in die Ukraine aber und sein Wunsch, das Land mit Rüstungsgütern zu unterstützen, hat die Debatte nun neu angefacht. Eine Gruppe Delegierter um die Bundestagabgeordnete Katja Keul will das Verbot bewaffneter Drohnen wieder ins Wahlprogramm schreiben. Andere, unter ihnen Bundeswehrangehörige mit grünem Parteibuch, halten dagegen. Es darf gestritten werden.