Großbritannien:Eine große Kirche

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Mania in der Beatles-Stadt: Ein Anhänger des Labour-Chefs in Liverpool. (Foto: Simon Dawson/Bloomberg)
  • Auf dem Labour-Parteitag in Liverpool herrscht großer Andrang.
  • Während die Sozialdemokratie überall in Europa in einen Zustand verzweifelter Anämie verfällt, könnten die Zeiten für Labour in Großbritannienn nicht besser sein.
  • Parteichef Jeremy Corbyn nimmt nun die Downing Street ins Visier.

Von Cathrin Kahlweit, Liverpool

In all dem Wirrwarr ist auch die alte Dame gut aufgehoben. "Jesus liebt dich" steht auf dem Schild, das sie unbeirrt und unbeweglich am Kings Dock von Liverpool in die Herbstsonne hält, obwohl sich niemand um ihre Botschaft schert. Um sie herum verteilen Hipster den Morning Star, die Zeitung für "Frieden und Sozialismus". Alt-Kommunisten, "Die Jüdische Stimme", Aktivisten gegen Medien-Manipulation und Palästina-Freunde werben für ihre Veranstaltungen. EU-Anhänger brüllen "Brexit ist Mist!" Und EU-Feinde brüllen zurück: "Leave! Damit endlich Schluss ist mit dem neoliberalen Marktradikalismus aus Brüssel!"

Labour ist eine große Kirche; die unterschiedlichsten Strömungen passen unter ihr Dach, und seit Sonntag drängen Tausende zum Labour-Parteitag ins Konferenzzentrum am Mersey, um - neben der Liebe von Gottes Sohn - eine zweite Botschaft zu feiern: Ihr Parteichef, Jeremy Corbyn, nimmt die Downing Street ins Visier. Und sie wollen dabei sein.

Während die Sozialdemokratie in Europa in Verzweiflung verfällt, läuft es für Labour glänzend

Dass eine Machtübernahme der Sozialisten nur noch eine Frage der Zeit ist, gilt in Liverpool als ausgemacht. Etwa 600 000 Mitglieder hat die Partei, und angesichts des Gedränges könnte man meinen, sie seien fast alle zum Parteitag in die Beatles-Stadt gekommen. Während die Sozialdemokratie überall in Europa in einen Zustand verzweifelter Anämie verfällt, könnten die Zeiten für Labour in Großbritannien nicht besser sein. Die konservative Premierministerin Theresa May ist so schwach wie nie, ihre Tories sind zerstritten, die Brexit-Verhandlungen stehen vor dem Scheitern. Kommunen, Gesundheitssystem, Schulen sind nach einem Jahrzehnt radikaler Sparpolitik ausgeblutet.

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Kein Wunder, dass die Delegierten nicht nur dem 69-Jährigen Labour-Superstar Jeremy Corbyn, sondern auch seinem Schattenfinanzminister John McDonnell zujubeln, der eine ökonomische Revolution verspricht - samt Steuererhöhungen für die Reichen, der Rückverstaatlichung von Wasserversorgung und Infrastruktur, einer gesetzlich geregelten Beteiligung von Arbeitnehmern an Firmenanteilen und Gewinnen, mehr Geld für die Kommunen.

"Dass ich das noch erleben darf", sagt eine Genossin unter Tränen, "1984 habe ich an den Bergarbeiterstreiks teilgenommen, seither ging es nur bergab. Ist es nicht wunderbar?"

Vergessen ist zumindest für ein paar Tage der Streit über Antisemitismus, der die Partei zu zerreißen drohte. Gerade noch rechtzeitig hatte die Führung die Forderung der jüdischen Community erfüllt, endlich eine international anerkannte Definition für Antisemitismus zu übernehmen, über deren Auslegung wochenlang gestritten worden war.

Vergessen der Streit darüber, ob Corbyns Leute mit Statutenänderungen parteiinterne Gegner zur Aufgabe drängen wollten. Kurz vor dem Parteitag war ein entsprechender Antrag entschärft und verschoben worden. Vergessen der Streit über die künftigen Beziehungen zur Europäischen Union, der auch die Linke spaltet und spätestens bei Neuwahlen massiv aufbrechen würde.

In Liverpool zumindest liegt über alledem eine weitgehend blickdichte Decke, die nur bei der Debatte über ein zweites Brexit-Referendum Risse zeigt. Nichts soll die Aufbruchstimmung stören in einer Zeit, in der die Tories sich zerlegen und Theresa May wahlweise zur tragischen Figur oder zur Lachnummer geworden ist.

Um die kurze Zeit der Harmonie nicht zu stören, scheut der Parteichef davor zurück, sich konkret zu positionieren. Bei der Eröffnung des Polit-Festivals "The world transformed", das seine Unterstützergruppe Momentum parallel zum Parteitag abhält, stehen die Fans in langen Schlangen rund um den Block, um Corbyn sprechen zu hören. In einer umjubelten Rede schafft es ihr Idol, die Worte "Juden" und "Brexit" nicht ein einziges Mal zu erwähnen - und das, obwohl er über den wachsenden Hass in den 20er und 30er Jahren und über die EU heute spricht.

Gestritten wird zum Schluss dann aber doch, aber eher hinter als vor den Kulissen: über die Frage nämlich, ob sich die Parteispitze dazu würde durchringen können, ein zweites Referendum zum Brexit zu befürworten. Sie kann nicht, mag sich aber der Stimmung auf dem Parteitag nicht verschließen.

Und die ist eindeutig: Als Brexit-Schattenminister Keir Starmer am Dienstagmorgen eine Debatte über Brexit und Wirtschaft eröffnet, die laut Parteitagsregie gerade mal anderthalb Stunden dauern darf, erntet er zweimal Jubel und einmal Ovationen: Natürlich gehe es darum, Neuwahlen zu erzwingen, sagt er. Aber wenn das nicht gelinge, müsse eben eine zweite Volksabstimmung her. Tosender Applaus. Und wenn, so Starmer, es dazu komme, dann bleibe die "Remain-Option" - also ein Verbleib in der EU als Wahlmöglichkeit auf dem Stimmzettel - weiter auf dem Tisch. Das sei in der Partei Konsens.

Die Delegierten klatschen stehend, später stimmen sie dem Vorschlag mehrheitlich zu.

Kurz vergessen der Streit darüber, dass Labours Vizechef McDonnell und andere fordern, "Remain" dürfe nicht erneut zur Abstimmung gestellt werden. Falls May überhaupt einen Deal zustande bringe, so Brexit-Spezialist Starmer, werde dieser mutmaßlich so schlecht sein, dass Labour ihn im Parlament niederstimme. "Wir werden den zerstörerischen Tory-Brexit aufhalten", ruft er. "Und dann übernehmen wir."

© SZ vom 26.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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