Eigentlich wollten die Europäische Union und die Vereinten Nationen an diesem Mittwoch über Hilfen für Syrien beraten und über den Wiederaufbau in dem von mehr als sechs Jahren Krieg weithin zerstörten Land. Die Vertreter von 70 Ländern, unter ihnen viele Außenminister, wurden zu dem Treffen erwartet, das auch von Deutschland mit organisiert wird. Das Ziel: Die Umsetzung der Hilfszusagen der Londoner Geberkonferenz aus dem vergangenen Jahr, bei der die internationale Gemeinschaft etwa neun Milliarden Euro für Syrien zugesagt hatte. Zudem soll die Konferenz die Suche nach einer politischen Lösung für den Konflikt unterstützen.
Die Teilnehmer hätten, zumindest was den Wiederaufbau angeht, darüber hinweggesehen, dass auch die letzte Runde der von den UN vermittelten Friedensgespräche in Genf keinerlei Annäherung gebracht hat. Und auch darüber, dass der von Russland und der Türkei zum Jahreswechsel in der kasachischen Hauptstadt Astana ausgehandelte Waffenstillstand de facto zusammengebrochen ist.
Aber nach dem Chemiewaffen-Angriff in Khan Scheikhun, einer Stadt in der von Rebellen und al-Qaida nahestehenden Gruppen kontrollierten Provinz Idlib im Nordwesten Syriens, ist die internationale Diplomatie im Krisenmodus: Frankreich, Großbritannien und die USA haben eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates beantragt; sie machen das Regime von Baschar al-Assad für den Angriff verantwortlich. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin telefoniert.
Doch auch dieses Mal ist es unwahrscheinlich, dass Konsequenzen auf die Attacke folgen. US-Außenminister Rex Tillerson erklärte zwar, der Angriff zeige, wie Assad vorgehe: "mit brutaler, ungenierter Barbarei". Auch trügen Russland und Iran als "selbsterklärte Garanten des in Astana verhandelten Waffenstillstands eine große moralische Verantwortung für diese Toten". Und der Sprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, sekundierte, der Angriff sei verwerflich und könne von der "zivilisierten Welt nicht ignoriert werden".
Syrien:Opposition wirft Assad Giftgasangriff vor
58 Menschen sterben bei einem Luftangriff in Syrien. Die Opfer zeigen Symptome, die Nervenkampfstoffe wie Sarin auslösen: verengte Pupillen, Schaum vor dem Mund, Erbrechen.
Trumps Sprecher macht Vorgängerregierung für die Attacke verantwortlich
Zugleich ließ aber nicht eines seiner Worte erkennen, dass sein Chef, US-Präsident Donald Trump, einen Millimeter von seiner bisherigen Linie abweichen würde. Die lautet: Es ist nicht praktikabel, Assad von der Macht zu vertreiben und auch keine Priorität mehr, die USA müssten die politischen Realitäten in Syrien anerkennen. Trump interessiert in Syrien nur der Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat - das hatte er schon im Wahlkampf deutlich gemacht. Tatsächlich war das im Kern auch schon die Linie seines Vorgängers Barack Obama, auch wenn dessen Rhetorik noch deutlich anders klang.
Dessen ungeachtet machte Trumps Sprecher indirekt die "Unentschlossenheit der Vorgängerregierung" für die Attacke verantwortlich - ein Verweis darauf, dass Obama von seiner roten Linie zurückwich, als Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad am 21. August 2013 in mehreren Vororten von Damaskus mehr als 1000 Menschen mit dem Nervenkampfstoff Sarin umbrachten. Geschenkt, dass Trump damals getwittert hatte, der Präsident solle Abstand nehmen von einem Angriff, weil dieser nur Nachteile bringen würde.
Sarin oder ein anderer Nervenkampfstoff könnte nun den Symptomen der Opfer nach auch in Khan Scheikhun zum Einsatz gekommen sein. Mehr als 100 Menschen sollen inzwischen gestorben sein, mehr als 300 wurden nach Angaben von Ärzten in der Stadt verletzt. Einige Überlebende wurden über die Grenze zur Behandlung in die Türkei gebracht - das wird dazu beitragen, schnell Gewissheit zu erlangen, mit welchem Stoff sie vergiftet worden sind.
Doch selbst in Fällen, in denen die Organisation zum Verbot von Chemiewaffen (OPCW) und die Vereinten Nationen nach gemeinsamen Untersuchungen zum Schluss gelangt waren, dass das Regime Giftgas gegen Aufständische eingesetzt hatte, blockierte Russland im Sicherheitsrat eine Verurteilung mit seinem Veto; China schloss sich dem an. Zwar sieht der britische Außenminister Boris Johnson ein mögliches Kriegsverbrechen in dem Angriff, und hochrangige Vertreter der US-Regierung äußerten sich ähnlich. Aber der zweiseitige Resolutionsentwurf, den Washington, Paris und London gemeinsam eingebracht haben, ist mit Blick auf Moskau schon äußerst zurückhaltend formuliert.
Demnach soll der mutmaßliche Chemiewaffen-Angriff verurteilt und rasch aufgeklärt werden. Sanktionen sieht der Entwurf nicht vor - diese werden lediglich angedroht, ohne das syrische Regime explizit zu nennen. Die USA, Frankreich und Großbritannien fordern aber detaillierte Angaben über die Einsätze der syrischen Luftwaffe, darunter auch Flugpläne und -bücher vom Dienstag, dem Tag des Angriffs.
Auch müsste Damaskus die Namen der Kommandeure jeglicher Hubschrauberstaffeln des Regimes nennen und Zugang zu relevanten Militärflugplätzen gewähren, von denen laut UN-Untersuchungsteams und der OPCW möglicherweise Chemiewaffen abgefeuert wurden. Auch Treffen mit Generälen und anderen Offizieren müssten im Rahmen der Untersuchungen innerhalb von höchstens fünf Tagen ermöglicht werden, heißt es in der Resolution.
Es ist schwer vorstellbar, dass Russland diesem Forderungskatalog zustimmt - zumal Moskau sich jetzt die Linie des Regimes zu eigen macht und den Rebellen indirekt die Schuld an der Freisetzung des Kampfstoffs gibt. Generalmajor Igor Konaschenkow, stellvertretender Sprecher des Verteidigungsministeriums, sagte, syrische Kampfjets hätten ein Lagerhaus der Aufständischen bombardiert, in dem giftige Substanzen gelagert worden seien, die für den Bau von chemischen Waffen bestimmt gewesen wären. Die syrische Armee hatte jegliche Verantwortung "kategorisch" zurückgewiesen, wie sie das bislang noch bei jedem Chemiewaffen-Einsatz getan hat. Vielmehr seien "terroristische Gruppen" verantwortlich.
Syrien:Trump gibt Obamas "Schwäche" Schuld an Giftgasangriff in Syrien
Weil Obama 2013 nicht in Syrien eingreifen wollte, sei es zu dem erneuten Angriff gekommen. Russland erklärt derweil, das Nervengas sei bei einem Angriff der syrischen Luftwaffe auf ein Giftgas-Lager der Rebellen ausgetreten.
Symptome wie Schaum vor dem Mund, Erbrechen, Atemnot
Diese Version ist nicht völlig auszuschließen, aber doch eher unwahrscheinlich. Außer dem syrischen Regime hat bislang nur die Terrormiliz Islamischer Staat Chemiewaffen in Syrien und im Irak eingesetzt, allerdings stets Senfgas. Dabei handelt es sich um einen Hautkampfstoff, der charakteristische Blasen verursacht. Die Menschen in Khan Scheikhun wiesen aber Symptome auf wie verengte Pupillen, Schaum vor dem Mund, Erbrechen, Atemnot und Lähmungserscheinungen bis hin zum Atemstillstand, der zum Tod führt. Das ist typisch für Nervengifte - und Kampfstoffe wie Sarin. Damit hatte die syrische Armee 2013 schon die Vororte von Damaskus attackiert.
Es ist zudem unwahrscheinlich, dass Chlor, das die syrischen Truppen regelmäßig einsetzen, so viele Menschen tötet; zudem hat das Gas einen charakteristischen, stechenden Geruch. Überlebende berichteten davon nichts; zudem traten Symptome auch bei Helfern auf, die ohne Schutzkleidung in Kontakt mit Opfern gekommen waren - was wiederum nicht zu Chlor passt, aber zu Nervenkampfstoffen.
Westliche Geheimdienste halten es für wahrscheinlich, dass Syrien nach dem Angriff auf die Vororte von Damaskus 2013 nicht alle Chemiewaffen und Vorstoffe zu deren Produktion deklariert und vernichtet hat. Die USA standen damals kurz vor einem Angriff auf syrische Militäreinrichtungen, in letzter Minute handelte Russland aber Assad die Zusage ab, der Chemiewaffenkonvention beizutreten und sein Arsenal zu zerstören. Sollten sich die Berichte aus Khan Scheikhun bestätigen, wäre dies der handfeste Beleg dafür, dass Assad diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist.
Kampfjets des Regimes und möglicherweise der russischen Luftwaffe haben in den vergangenen Tagen ihre Angriffe im Süden von Idlib intensiviert.