Geschichtsphilosophie und Geopolitik:Wo der Westen endet

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Was macht "den Westen" aus? Angela Merkel (von links), Donald Trump und Emmanuel Macron beim G-7-Treffen im italienischen Taormina. (Foto: REUTERS)

Die USA wegen Trump aus "dem Westen" zu verabschieden, wäre leichtfertig. Forderungen, die Europäer müssten ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, könnten zu Überforderung führen.

Von Gustav Seibt

Der Westen sei kleiner geworden, hat Außenminister Sigmar Gabriel am Montagabend erklärt, und er gab damit der Äußerung der Kanzlerin, die Europäer müssten ihr Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen, eine geschichtsphilosophische Note.

Denn der "Westen", den er meint, ist selbstredend nicht eine Weltgegend, sondern ein politischer Ideen- und Verfassungsraum, stabilisiert in einem Bündnissystem. Dieser trägt, so hat es Heinrich August Winkler entwickelt, der Lieblingshistoriker nicht nur der deutschen Sozialdemokraten, sondern auch Finanzministers Schäubles, ein "normatives Projekt".

Es geht, selbst die meisten Schüler wissen es inzwischen, um den Komplex von universalen Menschenrechten, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, repräsentativer Demokratie auf der Legitimationsbasis der Volkssouveränität. Die Vorgeschichte: Sie geht zurück bis zum mosaischen Monotheismus mit der Trennung von Gott und Welt, zu den griechischen Stadtstaaten der Antike, die gemischte Verfassungen entwarfen, als Modell der modernen Gewaltenteilung, dem Römischen Recht, den Papst-Kaiser-Kämpfen des Mittelalters als Vorlauf zur Trennung von Staat und Kirche, um dann in der Verfassungstradition des englischen Parlamentarismus und den Revolutionen von 1776 und 1789 zu kulminieren. Die teils christlich, teils aufklärerisch begründeten Menschenrechte erhielten hier erstmals Gesetzeskraft.

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"Normativ" ist das Projekt, weil es nie ganz rein verwirklicht wird, nie vollendet ist, sondern immer kritikwürdige Fehler, Schlacken und Rückfälle zeigt - das Projekt ist ein Prozess permanenter Selbstkritik und Selbstkorrektur. Der Westen ist nicht zu trennen von seiner Selbstgefährdung. Sein ideengeografischer Schwerpunkt sind die atlantischen Nationen, England, Frankreich, Amerika.

Deutschland sei erst spät dazugestoßen, auf einem langen Weg, wie Winkler eingängig beschrieb; doch das blieb nicht unumstritten angesichts einer soliden Freiheitstradition im Alten Reich. Dramatisch und unbezweifelbar war Deutschlands Abkehr vom Westen spätestens seit den "Ideen von 1914", mit denen Intellektuelle für den Weltkrieg warben, mit ihrem Vorlauf in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, später unter dem Nationalsozialismus.

Diffuse Lage in den USA

Zur Geschichte des Westens gehört also diese Möglichkeit: Man kann ihn, unabhängig von der Weltgegend, verlassen. Das ist der Hintergrund von Gabriels Äußerung. Auch diese Gedankenfigur ist nicht neu. Jürgen Habermas hat in einer hellsichtiger Abhandlung zum Irak-Krieg von 2003 die auch nach innen verheerenden Auswirkungen einer Doktrin einseitiger Militärinterventionen der Amerikaner entwickelt, noch bevor alle Konsequenzen des "Kriegs gegen den Terror" sichtbar wurden.

Die normative Autorität Amerikas liege in Trümmern, lautete sein Fazit. Es lohnt sich, einige Sätze wieder zu hören: "Selbst wenn der hegemoniale Unilateralismus machbar wäre, hätte er jedoch Nebenfolgen, die nach den eigenen Maßstäben normativ unerwünscht sind. Je mehr sich die politische Macht in den Dimensionen von Militär, Geheimdienst und Polizei zur Geltung bringt, desto eher fällt sie sich selbst - der Politik in der Rolle einer weltweit zivilisierenden Gestaltungsmacht - in den Arm, gefährdet sie die Mission, die Welt nach liberalen Vorstellungen zu verbessern."

Die heutige Lage der USA erscheint noch diffuser. Im Inneren zeigte der neu gewählte Präsident geringen Respekt vor wichtigen Elementen des westlichen Projekts wie Gewaltenteilung, Pressefreiheit, verbal sogar dem Folterverbot und damit einem Hauptpunkt der Menschenrechte. Nach außen lässt er Zweifel an Bündnisverpflichtungen aufkommen, die das normative Projekt des Westens weltpolitisch abstützten, allen Fehlern seit dem 11. September 2001 zum Trotz.

Zugleich erweisen sich die Gegenkräfte innerhalb der Vereinigten Staaten als vital, teilweise als machtvoll: Die kritische Presse erlebt einen bemerkenswerten Aufschwung, sogar ökonomisch; Gerichte stoppen Dekrete des Präsidenten in Serie; der schwergängige Mechanismus parlamentarischer Untersuchungen nimmt seinen Lauf.

Der Ausgang ist offen, aber Amerika aus dem "Westen" zu verabschieden, wäre leichtfertig. Solange US-Zeitungen Angela Merkel als "Leader of the free world" ansprechen, als Protagonistin der freien Welt, gehört Amerika zum Westen.

Die europäischen Nationen haben dagegen schon ganz andere Rückfälle erlebt, und zwar von Anfang an: Was war die Militärdiktatur Napoleons anderes als ein Abfall vom normativen Projekt des Westens, und zwar in einem Kernland seiner Entstehung? Keine Gewaltenteilung, ein schönes Gesetzbuch, aber keine unabhängige Justiz, Pressezensur, überwachter Briefverkehr, politische Verhaftungen Zehntausender.

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Im 20. Jahrhundert gingen immer wieder ganze Nationen für den normativ verstandenen Westen verloren, Italien, Spanien, Deutschland. Und ob dessen Gefährdung heute in Ungarn und Polen nicht größer ist als in den USA, ist eine offene Frage. Die Schließung der Balkanroute am vorläufigen Ende der Flüchtlingskrise geschah unter normativ so fragwürdigen Umständen, dass der Westen von seinem reaktionären Schatten, dem "Abendland", kaum mehr zu unterscheiden war. Das gilt übrigens auch dann, wenn man mit Winkler argumentiert, es bestehe keine Pflicht zur Selbstaufgabe.

Dieses unablässige Kommen und Gehen im Westen verrät etwas über die Problematik des Begriffs. Der Vorzug der Version, die Winkler ihm gegeben hat, liegt in der Klarheit des Kriterienkatalogs - schwammige Formeln wie "westliche Werte" werden dadurch überflüssig. Gleichwohl braucht das "Projekt", sofern es mehr sein soll als Ideengeschichte, einen Sitz im Leben, also einen konkreten politischen Ort. Dies war bisher der Nationalstaat nach europäisch-amerikanischem Muster.

Dauerproblem Nationalismus

Mit dem Kriterium der Volkssouveränität hat sich das normative Projekt des Westens zwangsläufig die Vieldeutigkeit des Volksbegriffs, also das moderne Dauerproblem des Nationalismus aufgeladen. Dieser ist kein reaktionäres Überbleibsel, sondern ein Brennelement der Demokratie.

Derzeit erweist sich, dass er toxisch nicht nur in seiner aggressiven Variante sein kann, sondern ebenso in seiner defensiven, auf Rückzug und Selbstbehauptung ausgerichteten Form. Nicht mehr Weltmacht ist heute sein Ziel, sondern Abschließung und Sicherung des Sozialstaats. Er schillert damit gefährlich zwischen links und rechts.

Diese defensive Wendung der Volkssouveränität ist eine Reaktion auf die Durchsetzung eines Weltmarkts, der sich politischer Steuerung immer wieder entzieht, der aber lange eine Hauptforderung liberaler Politik war. Gehört die Idee des Freihandels zum normativen Projekt des Westens? Müsste nicht auch die elementare Sicherung vor materieller Not zu ihm gehören? Diese Fragen sind nicht beantwortet.

Der Universalismus der Aufklärung könnte seine Grenzen bei der Forderung nach schrankenloser Migration finden. Theoretisch mag der Blick auf eine gelingende Globalisierung in ferner Zukunft sein Genüge finden. Wer aber sagt, die Europäer müssten nun ihr Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen, bewegt sich auf dem Feld der Realpolitik, der Unvermeidlichkeiten, einer europäischen Interessenpolitik mit allen Gefahren von Überforderung. Die Zukunft des Westens könnte demnächst weniger universalistisch ausfallen als zuletzt erhofft.

© SZ vom 31.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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