Geschichte:Raub an Juden: Rolle der NS-Finanzverwaltung wird erforscht

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Andreas Dressel (SPD, r), Senator für Finanzen in Hamburg, und Oliver von Wrochem, Vorstand Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, sprechen auf einer Pressekonferenz. (Foto: Christian Charisius/dpa/Archivbild)

Tausende Hamburger Juden werden von den Nationalsozialisten in KZs gebracht und ermordet. Doch vor ihrer Deportation werden sie schrittweise enteignet. Welche Rolle die Finanzverwaltung der Stadt bei der Ausplünderung spielte, lässt Senator Dressel jetzt erforschen.

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Hamburg (dpa/lno) - Welche Rolle spielte die Hamburger Finanzverwaltung bei der „Arisierung“ jüdischen Besitzes? Das soll der Bremer Historiker Jaromir Balcar nun in Kooperation mit der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte erforschen. Vor der Flucht ins Exil oder der Deportation in ein Vernichtungslager verloren auch Hamburger Juden meist ihr gesamtes Eigentum. Die Behörden des NS-Staats kassierten nach Angaben Balcars eine Vermögensabgabe, eine „Reichsfluchtsteuer“, eine Devisenbesteuerung und über sogenannte Sicherungsanordnungen wirtschaftliches Vermögen. Mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft verloren Deportierte ihr letztes Eigentum an den Staat.

Die Finanzbehörde hat das Projekt wenige Tage vor dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar in Auftrag gegeben. Es trägt den Titel „Ausgeraubt vor der Deportation. NS-Verfolgte im Fokus der Hamburger Finanzverwaltung“. Die Behörde stellt dafür 203.000 Euro zur Verfügung, wie Senator Andreas Dressel (SPD) am Montag sagte. Die Wanderausstellung soll Anfang 2025 zunächst im Rathaus gezeigt werden.

„Meist ging der physischen und psychischen Vernichtung der Verfolgten die finanzielle Vernichtung voraus, an der viele mitwirkten und an der sich auch viele bereicherten“, sagte Dressel. An der Beraubung der Verfolgten sei vor allem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) beteiligt gewesen, die die Beschlagnahme von Eigentum anordnete, sagte Balcar. Die Hamburger Finanzverwaltung sei damals eine Mittelbehörde des Reichsfinanzministeriums gewesen. „Diese Behörde war eine Art Spinne in diesem Netzwerk der staatlich organisierten Beraubung“, sagte Balcar.

Es habe aber auch auf privater Seite Profiteure gegeben, darunter Spediteure und Organisatoren von Versteigerungen sowie einfache Bürger. Im Zweiten Weltkrieg sei die Produktion für den zivilen Sektor weitestgehend zurückgefahren worden. Darum habe etwa im Bombenkrieg zerstörtes Mobiliar nur durch das noch vorhandene ersetzt werden können. So sei das Eigentum, das Juden geraubt wurde, wiederverwertet worden. Balcar betonte die Rolle von Hamburg als Auswandererstadt vor dem Krieg. Der Freihafen sei voll von Umzugsgut ausgewanderter Juden gewesen, das bei Kriegsbeginn nicht mehr verschifft werden konnte.

Balcar erwartet nicht, dass im Rahmen des Forschungsprojektes Eigentum gefunden wird, das noch nicht seinen rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben wurde. Dieser Prozess sei bereits mit der Wiedergutmachung in den 1950er Jahren in Gang gekommen. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz hätten sich Opfer des Nationalsozialismus direkt an die Bundesrepublik wenden können. In der Finanzverwaltung der Nachkriegszeit seien allerdings vielfach genau dieselben Beamten für die Entschädigung zuständig gewesen, die in der NS-Zeit an der Enteignung mitgewirkt hätten.

In Bayern, Baden-Württemberg, Bremen und anderen Bundesländern haben die Finanzbehörden bereits das Thema erforschen lassen. Dressel sagte, eine Art Auftraggeber sei für ihn der frühere Finanz-Staatsrat Leo Lippmann (1881-1943). Der jüdische Beamte wurde 1933 nach Hitlers Machtergreifung aus dem Staatsdienst entlassen. 1943 sollte er in das KZ Theresienstadt deportiert werden. Zuvor nahmen er und seine Frau sich das Leben.

Die Rolle der Hamburger Finanzverwaltung im „Dritten Reich“ ist bereits in Teilen erforscht worden. Der Historiker Bernhard Nette hatte 2019 eine Arbeit über die Ausplünderung der Bergedorfer Juden vorgelegt. Nach Angaben der Gedenkstätten-Stiftung wurden zwischen 1940 und 1945 mehr als 8000 Juden, Roma und Sinti aus Hamburg und Norddeutschland in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.

Stiftungsvorstand Oliver von Wrochem, sagte, oft würden Historiker oder Juristen, die sich mit der Aufarbeitung des NS-Unrechts befassten, gefragt: „Warum machen Sie das eigentlich noch, ist doch schon so lange her?“ Seine Antwort laute: „Für viele Menschen ist das gar nicht lange her.“ Die Verfolgten hätten Kinder, Enkel und Urenkel. Es sei geradezu eine moralische Pflicht, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Der Historiker Lennart Onken, der bei der Stiftung für Sonderausstellungen zuständig ist, erklärte, es sei wichtig, keine reine Tätergeschichte zu erzählen.

© dpa-infocom, dpa:230123-99-325778/3

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