Geschichte:Eine Ansammlung historisch "falscher Behauptungen"

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Vorbild im Herrschen und Unterdrücken der Ukrainer: Wladimir Putin weiht im November 2017 auf der Krim eine Statue von Zar Alexander III ein. (Foto: AFP)

In seinem neuen Buch zerpflückt der Historiker Andreas Kappeler die Rechtfertigung des russischen Präsidenten Putin für die Krim-Annexion - er erklärt die Gemeinsamkeiten und die Konflikte zwischen Russland und der Ukraine.

Rezension von Florian Hassel

Es war eine Ehrung unter seinesgleichen, als Wladimir Putin Mitte November auf die Krim kam. Russlands Präsident flog auf die zur Ukraine gehörende, 2014 von Moskau annektierte Halbinsel zur Einweihung einer Statue des "allrussischen Imperators" Alexander III. Der von 1881 bis 1894 regierende Zar habe die Armee modernisiert, den Bau der russischen Schwarzmeerflotte gefördert und stehe für "eine Epoche nationaler Wiedergeburt", lobte Putin.

Geschichte - oder deren Konstruktion - wird oft zu politischer Rechtfertigung benutzt, erst recht im aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Alexander III. war nach Putins Geschmack: Nach zaghaften Liberalisierungsversuchen der Vorgänger betonte dieser Zar wieder autokratisches Herrschen und den Vorrang des Imperiums. Von nationalen Ambitionen wollte er nichts wissen: In der Ukraine führte der Zar den Ausnahmezustand ein und verbot eigenständige Theateraufführungen in ukrainischer Sprache - dem Mantra folgend, dass es eine ukrainische Sprache, Geschichte oder Staatlichkeit nie gegeben habe, nicht gebe und vor allem: auch nicht geben dürfe.

Eine Denklinie, die ungebrochen zu Putin führt, der 2008 US-Präsident George W. Bush nahebrachte, dass "die Ukraine gar kein Staat ist"; der den "starken zentralisierten russländischen Staat" bis zur mittelalterlichen Kiewer Rus' zurückführt oder die Annexion der Krim damit rechtfertigte, diese sei immer "ein untrennbarer Teil Russlands" gewesen - und mit derlei auch bei vielen Deutschen Gehör fand.

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Selbst Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt sekundierte einmal Moskaus Anspruch auf die Krim mit dem Argument, unter Historikern sei "umstritten, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt". Ein Fehlurteil, das den Historiker Andreas Kappeler nicht überrascht: Viele im Westen übernähmen "unbesehen die russische Sichtweise, die seit zwei Jahrhunderten die Deutungshoheit hat."

Ukrainische Geschichtsforschung wird vor allem auf Englisch vorangetrieben, von Historikern wie Serhii Plokhy in Harvard, Taras Kuzio in Toronto oder Andrew Wilson in London. Im deutschsprachigen Raum aber hat sich wohl niemand sonst so früh und intensiv mit der Ukraine beschäftigt wie der Schweizer Kappeler, lange Osteuropahistoriker erst in Köln, dann in Wien. Dass die Ukraine über jahrhundertealte Traditionen von Sprache und Literatur, Staatlichkeit und Geschichte verfügt, die sich deutlich von denen des russischen Imperiums unterscheiden, schilderte Kappeler schon in seiner "Kleinen Geschichte der Ukraine".

Russen wie Ukrainer führen ihre Staatlichkeit auf die Kiewer Rus' zurück

Im neuen "Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer" konzentriert sich Kappeler auf Unterschiede und Parallelen zwischen Russen und Ukrainern; vom Mittelalter bis zu einem Kapitel, in dem er die Ansprache Putins zur Rechtfertigung der Krim-Annexion als Ansammlung historisch "falscher Behauptungen und Verdrehungen" zerpflückt. Tatsächlich wären nicht die Russen diejenigen, die durch jahrhundertelange Anwesenheit vorrangige Ansprüche auf die Krim stellen könnten, sondern die muslimischen Krim-Tataren.

Russen wie Ukrainer führen ihre Staatlichkeit auf die Kiewer Rus' zurück - nicht nur deshalb eine unhistorische Mythenbildung, weil Nationalstaaten im Mittelalter unbekannt waren. Tatsächlich wurde das Kiewer Reich von skandinavischen Wikingern gegründet. Zudem war die Kiewer Rus', deren Ursprünge im 9. Jahrhundert lagen und die bis zum 13. Jahrhundert bestand, ein Vielvölkerreich und alles andere als ein zentralistischer Staat, sondern ein Verbund von Fürstentümern.

Der schloss nicht nur Kiew ein, sondern etwa auch Minsk, Nowgorod oder Smolensk - nicht aber das erst Jahrhunderte später expandierende Moskau. Auch die zeitliche Ungebrochenheit fehlt: Vor allem vom 14. bis zum 17. Jahrhundert gingen Ukrainer und Russen getrennte Wege und pflegten unterschiedliche Traditionen - die Russen erst unter den Mongolen, dann unter dem Moskauer Fürsten und schließlich Zaren, die Ukrainer etwa als Teil Polen-Litauens.

Während in Moskau autokratisches Regieren und die Abwehr politischer und kultureller Einflüsse aus Europa vorherrschten, pflegten große Teile der heutigen Ukraine Kontakte mit Europa und schließlich, mit den von Kosaken gegründeten Hetmanaten, ein auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit beruhendes Herrschaftsideal. Ein Ideal, in der Realität kaum je umgesetzt, doch gleichwohl Kappeler zufolge bis heute "der wichtigste ukrainische nationale Mythos", den auch 2013/2014 jeder zu hören bekam, der sich auf dem Kiewer Maidan mit Demonstranten gegen den autokratischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch unterhielt.

Kappeler dekonstruiert etliche gängige Vorstellungen über Russland und die Ukraine. Die Bezeichnungen "Großrussen" und "Kleinrussen" für die Ukrainer hatten lange nichts mit Größe oder Unterordnung zu tun, sondern bezeichneten die unterschiedlichen Entfernungen Kiews und Moskaus von Konstantinopel, dem Sitz des orthodoxen Patriarchen: In Kiew war die Entfernung klein, in Moskau groß. Im 17. Jahrhundert auftauchende Bezeichnungen der Ukrainer als "jüngere Brüder" der Russen oder von Moskau als Erbe der Kiewer Rus' - noch heute von Putin angeführt - waren lediglich Hilfsappelle, mit denen sich Kiewer Orthodoxe, die mit polnischen Katholiken konkurrierten, die Hilfe des fernen Zaren erschmeicheln wollten.

Dass im 17. und 18. Jahrhundert viele ukrainische Intellektuelle nach Moskau oder Sankt Petersburg gingen, um dort Kirche und Verwaltung, Bildung und Armee zu modernisieren, ist Westeuropäern - und vielen Russen - bis heute ebenso unbekannt wie ukrainische Geschichtsschreibung und Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts. Viele Deutsche kennen Russlands Nationaldichter Alexander Puschkin - kaum einer den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko. Oder die Intellektuellen, die in der ukrainischen Revolution 1917-21 ihr Land (kurz) zurück auf die Landkarte Europas brachten - und an die die Ukrainer nach dem Zerfall der UdSSR anknüpften. Denn zumindest auf dem Papier war die Ukraine auch in der Sowjetunion ein souveräner Staat. Und Ukrainer hatten, je nach politischer Großwetterlage in Moskau, ihre Sprache und Kultur wieder gepflegt - im Westen, für den die UdSSR nur aus Russen bestand, meist unbemerkt.

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Welche Traditionen die Ukraine heute pflegen, welche Identität sie entwickeln soll, ist umkämpft: Taugen etwa die ehemaligen Untergrundkämpfer um den rechtsradikalen Stepan Bandera zu Helden? Und wenn nicht sie - wer dann? Doch auch Russlands Identität ist zerrissen, vor allem seit die Identitätsklammer "Imperium" weggefallen ist. Nach dem Ende der Sowjetunion konnten sich die Russen jahrelang nicht einmal auf einen passenden Text für die russische Nationalhymne einigen. Noch Putins Vorgänger Boris Jelzin setzte 1997 eigens eine Kommission ein, die eine neue "nationale Idee" finden sollte. Wladimir Putin hat darauf bisher nur die Antwort "autokratisches Regieren" gegeben.

Dass Putin in der Ukraine eingriff, begründet Kappeler mit dessen Angst vor politischer Konkurrenz. Schließlich demonstrierten auch in Moskau 2011/12 schon Zehntausende Russen nach Wahlfälschungen gegen Putins Herrschaft. Ein Erfolg der Maidan-Revolution mit dem Sturz des von Moskau gestützten Präsidenten Wiktor Janukowitsch und der expliziten Hinwendung zu Europa "konnte der russischen Opposition als Vorbild dienen". Mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine habe Putin verhindern wollen, dass sich die Ukraine als westlich orientierter demokratischer Staat und überzeugender Gegenentwurf zum autoritären Regieren etablierte - bisher mit einigem Erfolg.

Andererseits befeuerte schon Putins Vorbild Alexander III. mit seinem Ukrainischverbot die Identitätsbildung vieler nun trotzig gegen den Zaren auftretenden Ukrainer. Auch Putin könnte mit der Aggression und der Verneinung einer eigenständigen Ukraine die Entwicklung der ukrainischen Identität so stark befördern wie kaum ein Zar vor ihm.

© SZ vom 04.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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