Hauptbahnhof in Köln:Wie es zur Geiselnahme kommen konnte

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Spurensuche - Auch mehr als eine Woche nach der Geiselnahme am Kölner Hauptbahnhof fragen sich die Ermittler: Warum kam es zu der Tat? (Foto: N/A)
  • Der Geiselnehmer von Köln hatte massive psychische Probleme und befand sich in ambulanter Behandlung.
  • Auf eine besondere Religiosität oder Radikalität deutet bisher nichts hin.
  • Der Mann schwebt offenbar nicht mehr in Lebensgefahr. Es ist allerdings unklar, welche Schäden die Polizeikugel angerichtet hat, die er in den Kopf bekam.

Von Georg Mascolo, München

Das Leben des Mohammed Abo R. muss zuletzt eine ziemliche Katastrophe gewesen sein. In seiner Wohnung im dritten Stock eines heruntergekommenen Wohnblocks im Kölner Stadtteil Neuehrenfeld war der Strom abgestellt, mit der Post kamen Mahnschreiben. Zudem hatte der 55-Jährige ständig Ärger mit der Justiz. Die Ehefrau des syrischen Flüchtlings bekam von der deutschen Botschaft in Beirut keine Einreiseerlaubnis, sie wollte zu ihrem Mann ins Rheinland ziehen. R. aber hatte aus Sicht der Ausländerbehörde der Stadt Köln zu wenig dafür getan, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern und auch nicht an Integrationskursen teilgenommen.

Am 15. Oktober betrat R. mit einem Koffer und einer Aktentasche einen McDonald's am Kölner Hauptbahnhof, verschüttete Benzin und setzte die Lache mithilfe eines selbstgebauten Molotow-Cocktails in Brand. Eine 14-Jährige erlitt schwere Verbrennungen. Anschließend nahm er eine Angestellte in einer nahegelegenen Apotheke als Geisel und überschüttete sie mit Benzin. R. verlangte mit einem Flugzeug zum sogenannten Islamischen Staat in Syrien gebracht zu werden, dessen Mitglied er sei. Ein Spezialeinsatzkommando stürmte das Geschäft, R. stand nach Polizeiangaben im Türrahmen und versuchte noch, sich und die Apotheken-Angestellte in Brand zu setzen. Sechs Schüsse wurden auf den Geiselnehmer abgegeben.

Die Zahl islamistisch motivierter Anschläge geht zurück

Seither ermitteln der Generalbundesanwalt und die Ermittlungsgruppe "Hbf" ob es sich um eine terroristische Tat handelt. Die Zahl islamistisch motivierter Anschläge geht seit 2016 fast überall in Europa - auch in Deutschland - zurück. Köln wäre der erste Fall in der Statistik, seitdem ein abgelehnter Asylbewerber im Juli 2017 in einem Edeka-Markt im Hamburger Stadtteil Barmbek einen Menschen tötete und sechs weitere verletzte.

Noch laufen die Ermittlungen, mit großem Aufwand werden Internet- und Handy-Kommunikation von R. ausgewertet: War er ein radikaler Islamist? Stand er in Verbindung zum IS, und wurde er womöglich, wie in anderen Fällen bereits geschehen, sogar bei der Tat angeleitet? Bisher wurde nichts gefunden, was in diese Richtung deutet. Auch die in Syrien und im Irak unter Druck geratene Terrortruppe, die sonst ziemlich schnell damit ist, Gewalttaten für sich zu reklamieren, schweigt. Der Fall in Köln scheint sich in eine andere Richtung zu entwickeln.

R. hatte nach Informationen von S üddeutscher Zeitung, NDR und WDR massive psychische Probleme, mindestens seit 2017 befand er sich in ambulanter Behandlung, nahm Psychopharmaka und Medikamente zur Bekämpfung einer Depression. Als 2018 vor dem Kölner Amtsgericht wegen Betruges gegen ihn verhandelt wurde, ordnete das Gericht ein psychiatrisches Sachverständigengutachten an.

R. schnüffelte offenbar an Benzin

Auf eine besondere Religiosität - oder gar Radikalität - deutet ebenfalls bisher nichts hin. Sohn und Bruder wurden vernommen, beide berichteten von Tablettenabhängigkeit. Die in R.s Wohnung gefundenen Benzinvorräte nutzte er offenbar, um daran zu schnüffeln. Inzwischen liegen auch Hinweise darauf vor, dass der im März 2015 eingereiste Mann schon in seiner Heimat Probleme hatte: Gleich zwei Mal soll er in Haft gewesen sein. Zeugen berichten davon, dass R. ihnen erzählt habe, damals gefoltert worden zu sein.

Ein Neuanfang in Deutschland jedenfalls gelang R. nicht. Es gab Verfahren wegen Bedrohung, Rauschgiftbesitz, Hausfriedensbruch und Körperverletzung. Das meiste wurde eingestellt. Inzwischen spricht viel dafür, dass er spielsüchtig war und ständig pleite. Die Finanzagenturen führten ihn als Risikofall. In seiner Wohnung fanden Polizeibeamte an Wand und Möbeln arabische Schriftzeichen, Allahu Akbar, Gott ist groß. Das Glaubensbekenntnis der Muslime. Beim Staatsschutz war R. nie als Radikaler aufgefallen, nur zwei rätselhafte Vorgänge fanden sich im Archiv: 2016 hatte der Syrer in Köln Strafanzeige gestellt, sein Facebook-Account sei gehackt worden, jemand habe ein Bild von bewaffneten Kämpfern mit IS-Flagge gepostet. Er solle offenbar als IS-Anhänger denunziert werden, sagte R. Ein Jahr später dann schwärzte er selbst einen anderen als Anhänger der Terrormiliz an. Die Angaben wurden als unglaubwürdig eingestuft.

Chancen für eine Befragung stehen schlecht

Die Ermittlungen in Köln führen hinein in ein Feld, das den Sicherheitsbehörden große Schwierigkeiten bereitet: Wie lässt sich gewöhnliche Gewaltbereitschaft, womöglich gepaart mit psychischer Instabilität, abgrenzen von Terrorismus? Reicht für einen IS-Bezug schon, wenn der Täter eine entsprechende Parole skandiert oder die Pamphlete der Terrororganisation gelesen hat? Nichts ist leichter, als solche Parolen zu rufen. Nichts erzeugt mehr Angst und Schrecken - und auch mehr Aufmerksamkeit der Medien. Dass das Hamburger Oberlandesgericht die Messerattacke als Terrorismus einstufte, ist bis heute in den Sicherheitsbehörden umstritten.

Nun muss Köln bewertet werden. Was R. zu der schrecklichen Tat bewogen hat, würden die Ermittler ihn am liebsten selbst fragen. Die Chancen hierfür stehen schlecht, obwohl er offenbar nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt. Aber eine der Polizeikugeln traf seinen Kopf. Welche Schäden diese angerichtet hat, ist noch nicht bekannt.

Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de) oder andere Initiativen wie die Online-Beratung U25. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

© SZ vom 27.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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