Interview mit Joachim Gauck:"Ich wollte kein Deutscher sein. Ich fand das so schmutzig"

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Wie tickt Joachim Gauck? In einem langen SZ-Gespräch gab der mutmaßliche neue Bundespräsident 2010 umfassend Einblick in seine Gedankenwelt. Aus aktuellem Anlass: zeitlose Ansichten des Fünf-Parteien-Kandidaten über Patriotismus und Kapitalismus, über Thilo Sarrazin und die Medienmacht.

Oliver Das Gupta und Thorsten Denkler

Wie denkt Joachim Gauck über Präsidentenkritik, wie über Medienmacht? Was hält er wirklich von Thilo Sarrazin und vom Kapitalismus? Beging der Westen bei der Wiedervereinigung Fehler, und darf man stolz auf Deutschland sein? Zeitlose Fragen - beantwortet von Gauck im Oktober 2010, in einem langen Gespräch für die Internet-Ausgabe der SZ. Nun bekommen die Ansichten des designierten Bundespräsidenten neue Aktualität, auf Twitter wird das anderthalb Jahre alte Interview wieder empfohlen. Wir publizieren es aus aktuellem Anlass erneut: Einblicke in die Gedankenwelt des mutmaßlichen elften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland - wie der Mann tickt, der das Land künftig vertritt.

Joachim Gauck; Foto: Regina Schmeken

Joachim Gauck im Vorfeld seiner ersten Präsidentenkandidatur im Sommer 2010.

(Foto: Regina Schmeken)

SZ: Herr Gauck, welches Deutschland wünschen Sie Ihrem Urenkel, wenn er in 20 Jahren erwachsen sein wird?

Joachim Gauck: Ich setze große Hoffnungen auf die nachwachsende Generation - dass sie aus diesem phasenweise negativen Nationalismus, also unbedingt kein Deutscher sein zu wollen, etwas Besseres macht. Dass es ein Ja gibt zu dem Raum und dem Ort, an dem man lebt, zu dem man ja sagen kann, weil es dafür gute Gründe gibt. Ich frage mich, wie lange wir Deutschen unsere Kultur des Verdrusses noch pflegen wollen.

SZ: Was muss sich dazu ändern?

Gauck: Die Leute müssen aus der Hängematte der Glückserwartung durch Genuss und Wohlstand aufstehen. Sie dürfen nicht erwarten, dass andere für sie agieren. Eine Gesellschaft wird umso zukunftsfähiger, je aktiver sich die Bürger darstellen. Die Hoffnung, dass wir durch Konsum allein glücklich werden und die Bürgerexistenz vernachlässigen können, die trügt.

SZ: In Ostdeutschland ist nur noch ein geringer Teil der Bevölkerung gläubig. Viele haben die Kirche verlassen. Ist das eine Folge der Konsumfixierung?

Gauck: Wir erleben in allen Industriegesellschaften, dass die traditionellen Bindungskräfte von Religionen schwach werden - und dass eine klassische Wertorientierung, wie sie das aufgeklärte Bürgertrum vertritt, ausdünnt. Es ist aber nicht ganz verlorengegangen.

SZ: Es geht uns zu gut?

Gauck: Es ist die Folge eines Lebens, das nicht mehr jeden Tag von neuem errungen ist. Das ist in Krisenzeiten oder Diktaturzeiten anders. Da braucht man einen Kern. Wenn es uns rundum gutgeht, ist die Herausforderung nicht so stark, sich definieren zu müssen. Das Leben vollzieht sich. Es ist angenehm, oft auch locker, unterhaltsam. Man merkt nur an bestimmten Bruchstellen: Es fehlt irgendwas. Es gibt in Wohlstandsgesellschaften das Gefühl, es ist alles okay, nur ich fühl' mich nicht okay. Es gibt einen Hunger nach Sinn.

SZ: Sind wir zu materialistisch?

Gauck: Ehrlich: Ja, das denke ich. Es liegt nicht nur an unserer Zeit - dass die Menschen schnellen Genuss wollen, um sich glücklich zu stellen, gehört zur dunklen Seite der menschlichen Existenz. Erich Fromm hat nach dem Kriege das Buch Furcht vor der Freiheit geschrieben. Er rät zu einem anderen Weg, zu einem Leben in Bezogenheit, in Solidarität, um einen abgegriffenen Ausdruck zu benutzen. Dabei sieht Fromm den Menschen nicht als Singulum, sondern als Zoon politicon.

SZ: Nach Aristoteles ist der Mensch dazu gemacht, in Gemeinschaft zu leben.

Gauck: Das zu begreifen, ist eine enorme Chance, glücklicher zu werden.

SZ: Wie bringen Sie das den Menschen bei, die Hartz IV empfangen und ihre Kinder nicht jeden Tag zur Schule bringen, weil sie keinen Sinn darin sehen?

Gauck: Erst einmal sage ich ihnen, dass es keine Tugend ist, wenn man dort sitzt, den ganzen Tag Zeit hat und den Gören kein Mittag macht. Das darf man auch kritisieren.

SZ: Das ist nicht der Punkt: Die Frage ist doch, wie man an diese Leute rankommt.

Gauck: Das kann Politik selten leisten. Das müssen Kumpels tun oder Leute, die in deren Nähe arbeiten. Neulich erzählte mir mein Fahrer von seinem Cousin, der mit den gesamten Sozialleistungen ungefähr 30 Euro weniger als er hat. Mein Fahrer muss aber fast immer um fünf Uhr aufstehen. Er sei der Dumme in der Familie, aber er sagte mir auch: "Ich kann das nicht, ich kann nicht so dasitzen." Da habe ich gesagt, dass er denen erzählen soll, wie gut er sich mit Arbeit fühlt. Wir sehen ja auch in den Kreisen der Hartz-IV-Empfänger Leute, die politisch aktiv sind und auf eine Demonstration gehen. In diesem Moment verändert sich schon ihr Leben. Sie zeigen Haltung. Das ist sehr viel wichtiger, als dafür zu sorgen, dass die Alimentierung immer rundum sicher ist.

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