Fall Frederike von Möhlmann:Neuer Prozess gegen Mordverdächtigen möglich

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Der Vater Hans von Möhlmann hält im Mai 2015 ein Foto seiner 1981 ermordeten Tochter Frederike in den Händen. (Foto: Hauke-Christian Dittrich/DPA)

Fast vier Jahrzehnte nach seinem Freispruch muss der mutmaßliche Vergewaltiger und Mörder der 17-Jährigen noch einmal vor Gericht - wenn das Bundesverfassungsgericht nicht einschreitet.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Dieser Prozess schreibt Rechtsgeschichte, bevor er überhaupt begonnen hat: Das Oberlandesgericht (OLG) Celle hat den Weg freigemacht für ein Wiederaufnahmeverfahren im Fall Frederike von Möhlmann, die vor mehr als 40 Jahren vergewaltigt und umgebracht worden war, nur ein paar Kilometer von Celle entfernt. Zwar muss das Landgericht Verden noch abschließend entscheiden. Aber es herrscht wenig Zweifel daran, dass sich ein 63-jähriger Arbeiter wegen Mordes an dem damals 17-jährigen Mädchen verantworten muss - eben jener Mann, der wegen der Tat schon einmal vor Gericht stand, aber 1983 rechtskräftig freigesprochen wurde. Eine Spermaspur auf dem Slip des toten Mädchens, dank neuer Analysetechnik schon vor Jahren ihm zugeordnet, macht es möglich.

Das heißt: Falls nicht in letzter Minute das Bundesverfassungsgericht einschreitet. Der Anwalt des Verdächtigen, Matthias Waldraff, will Verfassungsbeschwerde einlegen und im Eilverfahren eine Aussetzung des Prozesses beantragen, wie er der Süddeutschen Zeitung bestätigte. Sein Mandant, derzeit in Untersuchungshaft, müsse auf freien Fuß gesetzt werden. Denn das neue Gesetz, das gegen den Verdächtigen angewendet werde, verstoße gegen das Verbot der mehrmaligen gerichtlichen Verfolgung, niedergelegt in Artikel 103 Grundgesetz. Außerdem verletze es das Rückwirkungsverbot.

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Mit beiden Fragen hat sich das OLG ausführlich auseinandergesetzt und keineswegs übersehen, wie umstritten die 2021 eingeführte Vorschrift ist, nach der bei klarer Beweislage auch nach einem rechtskräftigen Freispruch eine neue Anklage möglich ist. Es gehe letztlich um den Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und "materieller Gerechtigkeit", schreibt das Gericht. Hier die richtige Balance zu finden, sei Sache des Gesetzgebers. "Dessen Entscheidungen sind hinzunehmen, solange sie nicht willkürlich getroffen werden."

Die Causa Möhlmann ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie die Wucht der Emotion die Rechtspolitik bewegen kann. Hans von Möhlmann, Vater des ermordeten Mädchens, wollte sich nicht mit dem Freispruch abfinden und nicht damit, dass ein zweiter Prozess unmöglich sein sollte. Unterstützt vom früheren Bundesanwalt Wolfram Schädler, reichte er 2016 eine Petition mit mehr als 100 000 Unterschriften beim Bundesjustizministerium ein. Sein beharrlicher Ruf nach Gerechtigkeit wurde gehört, das Reformvorhaben schaffte es in den Koalitionsvertrag. Im Juni 2021, kurz vor Ende der Legislaturperiode, verabschiedete der Bundestag das Gesetz. Bei Mord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann ein freigesprochener Angeklagter erneut vor Gericht gestellt werden, falls neue und eindeutige Beweise eine Verurteilung als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen.

Auch Steinmeier äußerte verfassungsrechtliche Zweifel

Der Streit um die neue Vorschrift war damit freilich nicht beendet. Bereits im Bundesrat hatten mehrere Länder Bedenken angemeldet. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußerte bei der Unterzeichnung des Gesetzes verfassungsrechtliche Zweifel. Das Bundesverfassungsgericht lasse beim Verbot der Doppelbestrafung zwar "Grenzkorrekturen" zu, zitierte Steinmeier aus einer Entscheidung von 1981. Das Gesetz scheine aber darüber hinauszugehen. "Die Freigesprochenen sähen sich zukünftig in der Situation, dass ihr Freispruch nachträglich in einen Schwebezustand geriete." Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich ebenfalls skeptisch geäußert. Und Hamburg will bei der Justizministerkonferenz im Juni über eine Reform der Reform diskutieren lassen.

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Also eine klare Empfehlung, die Sache in Karlsruhe prüfen zu lassen. Derweil liefen die Bemühungen, den Prozess gegen den Mordverdächtigen in Gang zu bringen, das Gesetz war ja in Kraft. Zwar hätten Land- wie auch Oberlandesgericht das Bundesverfassungsgericht anrufen können, vielleicht sogar müssen, denn der Streit um das Gesetz polarisiert die Rechtswissenschaft. Doch sie hielten das Grundgesetz für eindeutig genug, um in eigener Hoheit entscheiden zu können.

Dabei rührt die umstrittene Reform an einen ehernen Grundsatz des Strafprozesses, der sich im 19. Jahrhundert verfestigt hatte. Das Verbot einer Doppelverfolgung war ein Bollwerk gegen staatliche Willkür, die auch die Gestalt inquisitorischer Dauerermittlungen gegen Unschuldige annehmen konnte. Der Ankläger sollte nur einen Versuch haben, dann war Schluss. Eine strikt formale, aber dafür eben auch glasklare Regel. Wie sehr sich der Diskurs inzwischen verschoben hat - weg von formalen Regeln und hin zu einer schwer fassbaren "Gerechtigkeit" -, zeigt bereits die emotionale Rhetorik der Gesetzesbegründung: Dass ein freigesprochener Mordverdächtiger unbehelligt bleibe, sei "unerträglich".

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