Der Diakon: Klare Ansagen sind notwendig
Winfried Rottenecker arbeitet in einer katholischen Innenstadtgemeinde in Essen mit und für Migranten. Sein Viertel habe enorm von ihnen profitiert, sagt er.
Was alles schieflaufen kann, lässt sich in Essen beobachten. Dort leben viele Menschen ohne Bleiberecht, und das oft seit Jahrzehnten: Kurdische Libanesen sind es, die meist in den 80er-Jahren nach Deutschland geflohen sind und oft im Status der Duldung verharren. Die breite Öffentlichkeit interessiert sich meist nur dann für sie, wenn sie in eine Gewalttat verwickelt sind, in den Medien ist dann gerne von "arabischen Clans" die Rede. Eine eigene Welt.
Man müsse den Leuten klar sagen, welche Perspektive sie haben in Deutschland, wünscht sich Winfried Rottenecker. Er arbeitet als Diakon in der Innenstadtpfarrei St. Gertrud viel mit und für Migranten. "Die Menschen können besser damit umgehen, wenn man ihnen klar sagt: keine Perspektive. Der Schwebezustand, ihr dürft bleiben, müsst euch aber alle drei Monate auf dem Amt melden, ihr dürft nicht arbeiten, müsst aber irgendwie über die Runden kommen, dieses Lavieren ist nicht gut." Am Ende sei eine Abschiebung besser als die endlose Hängepartie. Rottenecker befürchtet bei manchen Flüchtlingsgruppen, etwa aus Nordafrika, dass sich das Scheitern wiederholen könnte. Sie hätten keine Perspektive in Deutschland, weigerten sich aber häufig zurückzugehen.
Dass bei allen Problemen die vergangenen zwei Jahre eine "riesige Erfolgsgeschichte" seien, "kommt mir manchmal zu kurz", sagt Winfried Rottenecker. Sein Innenstadtviertel als Ganzes habe enorm profitiert vom Zuzug der Flüchtlinge: "Wir sind jünger geworden, lebendiger, bunter, sozialer, intelligenter, kommunikativer." Das wirke sich auch auf das Miteinander mit Menschen aus problematischen Familien aus: Sie müssten sich jetzt besser einfügen, weil die Leute im Stadtteil "viel aufmerksamer" geworden seien. Migranten, die in prekären Verhältnissen leben, würden inzwischen besser aufgefangen, die Gefahr, dass sie in einer Art Ghetto landen, sei geringer als früher. "Wenn ein Stadtteil aufmerksam ist, dann entwickelt sich das Miteinander positiv. Dann entsteht eine Wertschätzung der Vielfalt."
Die Beraterin: Das Misstrauen ist sehr groß
Christina Riebesecker engagiert sich ehrenamtlich für die Refugee Law Clinic in Leipzig - als Brückenbauerin zwischen Flüchtlingen und Behörden.
"Man bekommt große Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland." Christina Riebesecker erlebt unmittelbar, was schiefläuft. Immer wieder kriege sie Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge auf den Tisch, die mal schlampig geschrieben, mitunter sogar fehlerhaft seien, und das schon in ganz formalen Punkten: Angaben zu Herkunftsland, Religion, Volkszugehörigkeit, Geschlecht. Mitunter funktioniere, gleich zu Beginn des Verfahrens, nicht mal, dass die Einladung zur Anhörung rechtzeitig ankommt. Das könne bedeuten, dass das Asylverfahren endet, ehe es wirklich angefangen hat, wegen angeblich fehlender Mitwirkung des Flüchtlings.
In der Refugee Law Clinic Leipzig ist Riebesecker aktiv, der Verein begleitet Flüchtlinge während des Verfahrens. "Ohne die Hilfe der Ehrenamtlichen würde es nicht gut ausgehen für die Flüchtlinge." 90 Prozent ihrer Arbeit, schätzt sie, verwende sie für den Kontakt zu Behörden, sie hat vor allem in Sachsen ihre Erfahrungen gesammelt. Gewiss, es gebe viele freundliche, engagierte Mitarbeiter, aber eben auch das Gegenteil: Ein Klima der Konfrontation, des "institutionellen Misstrauens" erlebe sie in den Ausländerämtern etwa, zu oft sei die Grundfrage in den Ämtern: Wie finde ich heraus, dass dieser Mensch, der Flüchtling, lügt?
Wie sich die Asylpolitik geändert habe in den vergangenen zwei Jahren, so habe sich auch die Helferszene gewandelt. Viele seien abgesprungen, und von denen, die bei der Stange bleiben, hätten sich viele politisiert. "Man wird wütender", sagt Riebesecker. Viele wollten nicht mehr nur helfen, sondern politisch auch etwas bewegen: nicht einfach hinnehmen, was sie als Abwehr und Gängelung der Flüchtlinge erleben. Deshalb reagierten sie mit harscher Kritik am Staat: "Die Politik", sagt Christina Riebesecker, "muss sich fragen, was es bedeutet, wenn ein Teil der Bürger am Staat zweifelt."
Die Studentin: Nicht mal ein Deutscher versteht das
Elena Flügel hat den Verein "menschlichkeit-ulm" mitgegründet, der für Flüchtlinge Integrationsarbeit leistet. Flügel macht größtenteils gute Erfahrungen mit Mitarbeitern in Behörden. Aber die Studentin erlebt auch Absurditäten.
"Es ist alles in Deutschland sehr kompliziert, man muss auf Ämtern tausend Formulare ausfüllen, das fängt im Jobcenter an. Diese Papiere versteht oft nicht mal ein Deutscher, geschweige denn jemand mit schlechten Sprachkenntnissen. Viele Mitarbeiter in den Behörden haben große Geduld und bemühen sich wirklich, den Flüchtlingen zu helfen. Da ist mein Eindruck sehr positiv.
Die meisten Flüchtlinge sind sehr dankbar gegenüber uns Helfern. Manchmal kommt es aber vor, dass ihre Erwartungen an die Ehrenamtlichen zu hoch sind. Da darf man sich nicht zu sehr reinziehen lassen. Manche Helfer gehen schon fast eine Art Vormundschaft ein, nehmen den Leuten zu viel ab, überschreiten auch ihre eigene Kompetenz. Da muss man aufpassen und auch mal klar sagen: Das machst du jetzt selber.
Aus der politischen Diskussion will sich unser Verein bewusst raushalten, aber einen Kritikpunkt hätte ich schon. Es gibt die 3+2-Regel, nach der auch abgelehnte Asylbewerber für die Zeit ihrer Ausbildung und die zwei darauffolgenden Jahre einen Schutz vor Abschiebung erhalten. Das ist super. Die Regel gilt auch für die Ausbildung zum Krankenpfleger, aber nicht für die zum Krankenpflegehelfer, weil die nur ein Jahr dauert. Das ist doch absurd! Gerade der Job als Pflegehelfer ist als Einstieg in den Beruf ideal für Flüchtlinge. Und wir suchen ja Pflegekräfte. Diese Regel müsste man dringend ändern."
Der Kirchenmann: Sterbende Pfarreien erwachen wieder
Stephan Reichel betreut Pfarreien, die Flüchtlingen Kirchenasyl gewähren. Im Oktober gründet er den Verein "Matteo", kirchennah, aber unabhängig.
"Eigentlich wollen wir das Kirchenasyl nicht." Das sagt ausgerechnet einer, der seit Jahren durch die Lande zieht und Pfarreien unterstützt, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Stephan Reichel war bis vor Kurzem Kirchenasyl-Koordinator der Evangelischen Landeskirche in Bayern und betrachtet das Kirchenasyl als letztes Mittel. Es solle nur dann zum Einsatz kommen, wenn der Rechtsstaat nicht funktioniere, wenn Flüchtlinge etwa nach Bulgarien, Italien oder Ungarn abgeschoben werden sollen, wo ihnen Prügel und Obdachlosigkeit drohen. Rund 350 Kirchenasyle gibt es derzeit. Nachdem diese Zahl über Jahre gestiegen war, stagnierte sie zuletzt, sagt Reichel.
Angela Merkel, die Pfarrerstochter, habe es mit ihrer Politik geschafft, vielen Pfarrgemeinden neues Leben einzuhauchen, erzählt Reichel: "Wir erleben eine unglaubliche Reaktivierung unseres Gemeindelebens, überall dort, wo Flüchtlinge sind." Es gehe um die kern-ethischen christlichen Werte, wie sie im Evangelium stehen: Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen. Das ziehe viele Menschen an, aus allen gesellschaftlichen Schichten. Reichel: "Ich kenne Gemeinden, wo die Pfarrer sagen, die Gemeinde war schon am Sterben, und jetzt ist sie wieder voll aktiv."
So groß das Engagement, so groß sei aber auch die Enttäuschung in der Kirchenszene. Viele seien "sehr irritiert" angesichts einer inzwischen vorherrschenden Politik von Abschottung und Vergraulung, sagt Reichel. "Da gibt es großen Frust."
Der Gastgeber: Der Rauswurf war nötig
Hannes Koch hat einen jungen Syrer in seiner Wohnung aufgenommen, ganz spontan. Nach einem Jahr setzte er ihn vor die Tür, das war im April.
"Heute bin ich ernüchtert, aber im Reinen mit dieser Geschichte. Ich habe einerseits ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn rausgeworfen habe, denke aber, dass ich mich richtig verhalten habe. Das Maß war einfach voll. Der wesentliche Grund für das Scheitern unseres Zusammenlebens war, dass dieser junge Mann seinen Teil des Vertrages nicht eingehalten hat. Er nimmt vieles nicht ernst, auch nicht die Integrationsvereinbarung mit dem Jobcenter, dass er regelmäßig in den Sprachkurs geht. Außerdem hat er sich auch menschlich oft mies verhalten, er hat mich systematisch angelogen. Ich geh' zur Schule, hat er gesagt, ist aber nicht gegangen. So ein Verhalten will ich mir nicht bieten lassen, selbst wenn er in so einer schwierigen Lage ist. Dass er traumatisiert ist, das kann ein Grund sein für sein Verhalten, aber meine Grenze war erreicht. Trotzdem, ich würde es wieder machen und jemanden aufnehmen, dann aber mit ganz klaren Regeln.
Generell finde ich, dass wir, die wir linksliberal denken und die Menschenrechte hochhalten, uns Gedanken machen müssen, was man sich zumuten will, persönlich und gesellschaftlich. Wir müssen uns überlegen, wo unsere Grenzen sind bei der Einwanderung. Offene Grenzen für alle, die alte autonome Forderung, funktioniert nicht. Dann haben wir die AfD mit 30 Prozent im Bundestag."
Die Professorin: Man muss fordern statt betütteln
Erika Steinert hat was gegen das Betütteln. Als die Professorin für Sozialarbeitswissenschaft im Ruhestand zurück in ihr Dorf in der Pfalz zog, kam ihr eine Idee.
"Es ist wichtig, Hilfebedürftige aus ihrer Lage rauszubekommen. Zu meiner Freude gab es in Rockenhausen schon einen großen Helferkreis und einen Treff für Flüchtlinge. Ältere Damen haben sie mit Kaffee und Kuchen bewirtet. Eine schöne Willkommenskultur, aber sie genügt nicht. So kam mir die Idee mit der Helferbörse, damit die Flüchtlinge raus kommen aus ihrer Flüchtlingsblase. Einige junge Syrer waren gleich dabei. Wir wollen der Gesellschaft, die uns so hilft, was zurückgeben, haben sie gesagt. Im Ort gab es aber auch Bedenken: Die sollen erst mal Deutsch lernen, hieß es; einer hat gefragt, was die denn überhaupt helfen können. Als wir trotzdem anfingen mit der 'Börse Nachbarschaftshilfe', waren sechs Flüchtlinge dabei, jetzt sind es um die 20. Ohne Bezahlung helfen sie im Haus und im Garten, machen Brennholz, putzen die Wohnung, mähen Wiesen, schleifen das Garagentor. Es ist teilweise entstanden, was wir uns wünschen: längerfristige Beziehungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Dabei verbessern sie ihre Sprachkenntnisse, und sei es, dass sie Pfälzisch lernen.
Insgesamt halte ich einen Perspektivenwechsel für nötig, hin zu einer ressourcenorientierten Integrationspolitik, bei der die Kompetenzen der Migranten im Mittelpunkt stehen. Wir müssen die Flüchtlinge stärker einbeziehen, um zu vermeiden, dass sie in eine Liegestuhl-Depression fallen. Statt sie zu betütteln, müssen wir sie fordern."
Die Vermittlerin: Gesucht sind engagierte Locals
"Start with a Friend" bringt Einheimische und Flüchtlinge zusammen, die Initiative hat sich zu einer großen Erfolgsgeschichte entwickelt. Nun aber fehlen dem Verein die Locals, berichtet Sarah Rosenthal, die in der Bundesleitung des Vereins arbeitet.
"Wir wollen, dass sich zwei Menschen auf Augenhöhe kennenlernen und sich im besten Fall eine Freundschaft entwickelt. Das Ganze soll nachhaltig sein, diese Eins-zu-eins-Beziehungen sind dafür ideal. Die Idee hatten wir schon 2014, seit April 2015 haben wir die Tandems zusammengebracht. Inzwischen sind es schon mehr als 2500, also gut 5000 Menschen, die mitmachen. Viele der Locals sind jung, zwischen Mitte 20 und Mitte 30, die Altersspanne reicht aber bis Ende 70.
Wir haben gut 170 Vermittler im Team, sie führen Erstgespräche mit Locals und Flüchtlingen und schauen, wer zu wem passen könnte. Dabei engagieren sich auch einige Geflüchtete. Inzwischen sind wir in 17 Städten aktiv und haben eine hauptamtliche Struktur für die Organisation, anders ginge es nicht mehr. 16 Hauptamtliche arbeiten bei uns, wir werden zu einem großen Teil finanziert vom Bundesfamilienministerium. Diese Unterstützung ist wirklich gut. Die haben dort erkannt, welches Potenzial das Projekt hat mit seinem bürgerschaftlichen Engagement.
Vergangenes Jahr haben wir mal systematisch nachgefragt: Zwei Drittel der Tandempartner sagten, dass sie Freunde geworden seien. Sie machen ganz Unterschiedliches, Sport, Behördengänge, Jobsuche, worauf sie Lust haben. Viele Deutsche erzählen uns, wie gewinnbringend für sie so ein Tandem ist. Leider ist die Bereitschaft, sich zu engagieren, zurückgegangen. Das spüren wir auch, und das beeinträchtigt unsere Arbeit natürlich. Jetzt müssen wir viel stärker um Locals werben. Wir haben inzwischen leider Wartelisten für Geflüchtete, die mitmachen möchten."
Der Ämterlotse: Abschreckung ist der falsche Weg
Reinhard Kastorff war Beamter in diversen Verwaltungen, heute als Rentner betreut er zahlreiche Flüchtlinge. Er gibt viel, erwartet aber auch einiges von ihnen.
"Die Kanzlerin hat vor zwei Jahren nicht nur 'Wir schaffen das' gesagt. Der Satz geht weiter: '... und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.' Mich ärgert es sehr, dass dieser zweite Teil inzwischen völlig ignoriert wird, von der Politik, aber auch von den Medien und den Behörden. Dabei ist das doch eine klare Ansage, gerade an die Behörden, an die Bürger: Gebt euch Mühe! Wenn es Probleme gibt, lasst euch was einfallen!
Völlig falsch ist, wie wir mit Flüchtlingen umgehen, die abgelehnt wurden, die aber, aus welchen Gründen auch immer, Jahre später noch hier sind: Man versucht sie zu vergrämen, indem man sie schlecht behandelt und ihnen das Arbeiten verbietet. Gerade in Bayern ist das ein beliebtes Instrument der Gängelung. Das funktioniert aber nicht: Sie gehen trotzdem nicht freiwillig heim. Und Abschreckung funktioniert so auch nicht. Einer in Mali oder am Hindukusch überlegt sich doch nicht, bevor er aufbricht nach Deutschland, wie er später mal behandelt wird, und sagt dann: Och, dann bleibe ich lieber daheim.
Wir brauchen eine Altfallregelung für Leute, die schon seit Jahren da sind. Das kann eine Win-Win-Situation werden, für die Gesellschaft und den Flüchtling. Wenn sich einer bewährt hat, soll er eine Chance kriegen. Wenn er einen deutschen Betreuer hat, der ihm einen guten Leumund bescheinigt, wenn er keinen Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis hat, wenn ihm der Berufsschullehrer ein gutes Zeugnis ausstellt oder wenn sein Lehrherr zufrieden ist - dann sollte er eine Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht kriegen. Die Kriterien dürfen gerne streng sein, aber wenn sie erfüllt sind, sollten wir die Türen öffnen. Auch zu unserem eigenen Vorteil. Es ist doch Unsinn, im Ausland Pflegekräfte anzuwerben, und umgekehrt Leute, die schon Deutsch können und sich bewährt haben, heimzuschicken. Die Belohnung für die Fleißigen könnte bei den Flüchtlingen, die sich gerne in die Hängematte legen, einen Aha-Effekt auslösen, weil sie sehen: Wenn wir uns anstrengen und uns ordentlich benehmen, dann geht was."