Wenn Abdou Karim Sall über den Tag der Revolte spricht, spürt er wieder die Wut. Zwei ausländische Schiffe hatten damals illegal in einer maritimen Schutzzone gefischt. Er und ein paar andere Kleinfischer aus dem Ort Joal riefen die Bevölkerung im Radio zu Protesten auf. Dann fuhren sie raus aufs Meer und kidnappten zwei Kapitäne. Für die Aktion kamen sie kurzzeitig in Haft, abgeführt vom Militär. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen versuchten Mord vor. Wäre die Polizei nicht dazwischengegangen, dann hätten die Fischer die ganze Crew umgebracht, so lautete die Begründung der Justiz. "Uns nannte man Piraten", sagt Sall vier Jahre danach. "Doch ihr Ausländer seid die Piraten, denn ihr fischt unser Meer leer."
Nun steht er wieder an der Spitze des alten Holzbootes und blickt über den glitzernden Atlantik zurück zum Strand. In der Bucht zwischen den Mangrovenwäldern, wo die Fischer täglich hinaus aufs Meer fahren, sind die Wellen zahm. Auf der Piroge sind außer ihm noch fünf andere, der jüngste von ihnen gerade 13 Jahre alt. Die Männer klopfen auf das Holz ihres Bootes, um die Fische aufzuschrecken und sie so in ihre Netze zu treiben. Doch nach ein paar Stunden in der Mittagshitze geben sie an diesem Tag auf. Am Ende ihrer Fahrt werden sie nur einen mageren Fang an Land bringen. "Seit zehn Jahren haben wir das Problem, dass die Europäer, Russen und Chinesen uns die Lebensgrundlage nehmen", sagt Sall.
Fischerei in der Ostsee:Mehr Dorsch, weniger Hering
Umweltschützer, Wissenschaftler und die EU-Kommission hatten strengere Vorgaben für die Fischer in der Ostsee gefordert. Die neuen Quoten stoßen nun auf heftige Kritik.
Der 51 Jahre alte Mann und die anderen Kleinfischer kämpfen dagegen an, doch ihre Gegner scheinen unbezwingbar. Sie konkurrieren mit großen Industriebooten, die in einer Woche so viel fangen wie ein senegalesischer Kleinfischer in einem Jahr, wie ein Fachjournal kürzlich berechnete. In Joal verdienen 90 Prozent der Bewohner ihr Auskommen mit dem Fischfang, im gesamten Land ist es immerhin jeder Fünfte. Der Fisch prägt auch die Nationalküche: Thieboudienne, ein Gericht aus Zackenbarsch mit Gemüse und Reis, gibt es in jedem Restaurant, vom Diplomatenviertel von Dakar bis zur Schnellküche im Banlieue.
Nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen sind die Meere nahezu leergefischt. Um trotzdem den weltweiten Hunger auf Kalamari und Thunfisch zu stillen, fangen seit Jahren Crews aus der ganzen Welt vor den artenreichen Küsten Westafrikas. Um Bestände zu schützen, unterhält der Staat deshalb Abkommen - auch mit der EU. Die Vereinbarung legt zum Beispiel fest, wie viel die High-Tech-Schiffe aus Europa pro Jahr fangen dürfen. 2019 wird das Abkommen auslaufen und wohl neu ausgehandelt werden. Doch mittlerweile ist auch die Überfischung der hiesigen Gewässer nicht mehr zu leugnen. Die Folgen spüren vor allem Männer wie Karim Sall.
Der Geruch von verdorbenem Fisch mischt sich mit dem Gestank der Exkremente der Esel
Am Mittag gleiten sie in ihren Holzpirogen durch das seichte Wasser zurück. Die letzten Meter stapfen sie mit Netzen und Kisten auf ihren Schultern an Land. Am Strand, unter der fast senkrecht stehenden Sonne, liegen leere Häuser tausender Stachelschnecken, deren Fleisch nach Asien exportiert wird. Der Geruch von verdorbenem Fisch mischt sich mit dem Gestank der Exkremente der Esel, die Karren durch den Sand ziehen.
Ein blaues Stahltor trennt die Verarbeitungshalle vom Dorf. Schon am Vormittag begeht ein junger Mann hier eine Straftat: Zwischen seinen Füßen liegt ein rosagraues Exemplar einer geschützten Rochenart. Er wetzt sein Messer ein paar Mal, dann trennt er dem Tier die Flossen ab. Es klingt, als würde er mit der Klinge Stoff zerreißen. Er wirft die Flossen auf den staubigen Boden, wo sich das Blut seinen Weg bahnt und in einer Rinne mit dem Abwasser vermischt.
Was der Mann gerade getan hat, ist laut internationalen Abkommen zum Artenschutz verboten. Seinen Namen verrät er deshalb nicht. Nur so viel: Er verdiene hier im Senegal viel mehr als in seinem Heimatland, dem benachbarten Gambia. Doch wer soll das Recht hier durchsetzen? "Das Problem sind die Kontrollen", schimpft Sall, wenn er Szenen wie diese beobachtet. Er wirft den ausländischen Flotten vor, dass sie sich nicht an Vereinbarungen hielten. Vor allem aber fehlten unabhängige Aufpasser in den Häfen. Zwar gibt es eine Küstenwache, doch der mangelt es an Geld und Ausstattung. Und Senegals Regierung erteilt den Ausländern weiter großzügige Fanglizenzen.
Weil in den EU-Gewässern längst nichts mehr zu holen ist, sollen Abkommen mit afrikanischen Staaten den Appetit der Europäer befriedigen: Fangrechte im Austausch für finanzielle und technische Unterstützung. Konkret dürfen EU-Trawler innerhalb der 200-Meilen-Grenze mehrere Tausend Tonnen Fisch vor Senegals Küste fangen, dafür bekommt der Staat rund 2,5 Millionen Euro pro Jahr, inklusive einer Art Nachhaltigkeitsunterstützung. Das Abkommen komme beiden Parteien zugute, sagen Vertreter der EU. Senegal erhalte einen finanziellen Ausgleich für den Zugang zu seinen Gewässern. Im Gegenzug dürften EU-Schiffe nur unter strengen Bedingungen fischen, teilte eine Sprecherin mit und verweist auf die finanzielle Unterstützung, die die EU etwa für nachhaltige Fischereipolitik zahlt.
An Umschlagplätzen wie Joal muss der Fang dann deklariert werden, bevor er in Warschau und Amsterdam auf dem Teller landet. Auch am Aschermittwoch zum Beginn der Fastenzeit steht Fisch bei vielen Europäern traditionell auf dem Speiseplan. Jeder EU-Bürger konsumiert im Durchschnitt jährlich 24,33 Kilogramm Fisch. Laut Experten wird von den EU-Schiffen aber ein Viertel des Fisches nicht angegeben, sondern illegal weiterverarbeitet. Bei Flotten aus dem übrigen Ausland liegt der Anteil noch höher. Ganz zu schweigen von den Kriminellen, die nachts fahren und ihr Radargerät ausschalten.
Die Crews der EU-Trawler sind also so etwas wie die Guten unter den Bösen. Und doch treibt die EU so die Migration voran - die sie doch eigentlich unbedingt eindämmen will: Erst bei ihrem Senegal-Besuch im Sommer bekräftigte Bundeskanzlerin Merkel dieses Ziel. Doch für die Fischer hier sind das nichts als Worthülsen. Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 18, davon ist mehr als ein Drittel arbeitslos. Für viele Fischer sei es schwer, überhaupt noch ihre Stromrechnung zu bezahlen, sagt Sall, der Kleinfischer. Bevor die europäische Grenzschutzagentur Frontex vor den westafrikanischen Küsten patrouillierte, waren es alte Pirogen wie seine, mit denen Senegalesen, Gambier, Mauretanier versuchten, auf die Kanaren zu gelangen und so europäischen Boden zu erreichen. In nahezu jedem Ort gibt es Geschichten über den einen jungen Mann, für den die Gemeinschaft zusammengelegt hat. Er sollte die Überfahrt wagen und es zu Reichtum bringen. Nach einer gewissen Zeit, so die Logik dieses Pakts, muss er die Zurückgebliebenen finanziell unterstützen.
Nach Senegals Unabhängigkeit 1960 durften Bürger aus der ehemaligen Kolonie sogar eine Zeit lang legal nach Frankreich einwandern - doch mit der Ölkrise in den 1970er-Jahren beendete Frankreich seine Politik der offenen Grenzen. Viele der Migranten landen heute in Pariser Zeltstädten, wo Hilfsorganisationen manchmal etwas zum Essen verteilen. Sie haben keine Perspektive, doch zurück können die jungen Männer auch nicht: Zu groß wäre die Schande für die Familie, die ihr ganzes Geld auf eine Karte gesetzt hat. Abdou Karim Salls Bruder, erzählt er, habe Glück gehabt; der arbeite in Belgien als Küchenhilfe. Er selbst möchte niemals in dieses angebliche Paradies Europa. Die meisten hier am Strand von Joal aber träumen diesen Traum weiter.
Sall weiß, in welcher Pattsituation sein Land steckt: "Wir sind ein Entwicklungsland, wir müssen mit der EU kooperieren." Ohne die Abkommen würde Anarchie herrschen: Dann kämen noch mehr Fischerboote aus der ganzen Welt an die westafrikanische Küste. Doch auch so bleibt am Ende immer weniger Fisch für die Senegalesen selbst übrig. "Die Zukunft unserer Kinder steht auf dem Spiel", sagt Sall. Sie sollen später auch noch mit der Fischerei Geld verdienen können. So erlegen sich die Kleinfischer von Joal selbst Regeln auf: In bestimmten Zeiträumen fangen sie nichts, damit sich die Bestände langsam erholen können. Alle hielten sich daran, sagt Sall, nur die Flotten aus dem Ausland nicht.