Christian Linder ist eigentlich schon fertig. Er hat anderthalb Stunden über den Glauben an eine starke Wirtschaft gesprochen, über die Segnungen der modernen Technologie, die Vorzüge der Flexibilität, den marktwirtschaftlichen Klimaschutz, ja sogar über den umfassenden Anbau von Spargel in China. Auch den Formalitäten hat der FDP-Chef schon genüge getan. Er hat den Präsidiumsmitgliedern gedankt und wärmstens Linda Teuteberg zur Wahl empfohlen, seine Kandidatin für das Amt der Generalsekretärin. Und nun, dafür ist er lange genug im Geschäft, weiß er: Das war nix.
Klar, es gab Applaus. Auch mal Jubel, etwa bei der Forderung, Klimaschutztechnologien denen zu überlassen, "die wirklich etwas davon verstehen". Aber gefunkt hat es nicht bei den 662 Delegierten. Deshalb fängt Lindner noch mal von vorne an.
Nicht wirklich natürlich, aber für ein paar Minuten wirkt es, als halte Lindner nach einer ersten Parteitagsrede einfach noch mal eine. Diesmal leidenschaftlich, engagiert und kämpferisch. "Es gibt in diesem Land einen politischen Mainstream der Planung und des Verbots und neuerdings auch der Verstaatlichung", ruft er. Eigentlich redet er nur noch, um einen Antrag zu unterstützen, den der Berliner FDP-Politiker Sebastian Czaja und andere eingebracht haben. In dem Antrag gegen "die Vergesellschaftung von privatem Wohnraum" wird nicht nur die Initiative für ein solches Volksbegehren in Berlin abgelehnt. Gefordert wird auch die Streichung von Artikel 15 des Grundgesetzes, der die Vergesellschaftung von Grund und Boden erlaubt. Ein "Relikt" sei das, poltert Lindner. Die Debatte um die Enteignung großer Wohnungsunternehmen in Berlin nennt er "Linkspopulismus". Sie trage Züge einer "Entmenschlichung". Mit derart scharfer Kritik an Linken und Grünen sowie der Parole "Bauen statt klauen" bringt Lindner den Saal schließlich in Wallung.
Und in jene Stimmung, die er sich wünschen muss bei den Vorstandswahlen, die ein paar Stunden später anstehen. Die Latte liegt bei jenen 91 Prozent, die er beim Parteitag vor zwei Jahren erreicht hat.
Es kann daher auch nicht überraschen, dass Lindner die Erinnerung an die Lage damals noch einmal auffrischt. In den Umfragen habe die Partei bei sechs Prozent gelegen, die Rückkehr in den Bundestag sei noch keineswegs sicher gewesen. Der Wiedereinzug sei dann zum "größten Erfolg dieses Präsidiums" geworden, womit er natürlich auch sich selbst als Vorsitzenden meint. Die Entscheidung gegen die Jamaika-Koalition habe dann "eine harte Zeit für uns in der öffentlichen Auseinandersetzung" nach sich gezogen. Aber die FDP sei mit Werten von acht bis neun Prozent in den Umfragen nun wieder "eine stabile Größe in der politischen Landschaft".
Stabilität - das ist Lindners Credo für die Liberalen, die ja auch leicht nervös werden könnten angesichts des Höhenflugs der Grünen in den Umfragen. Als Ziel gibt der Vorsitzende die Regierungsbeteiligung in Bund und Ländern aus, was wohl auch noch mal als Kurskorrektur an dem Eindruck gedacht ist, den die FDP 2017 hinterlassen hat: dass sie die Verantwortung scheut, wenn es ernst wird.
Lindner hat sich gegen möglicherweise aufkeimende Zweifel jeglicher Art so etwas wie eine Fels-in-der-Brandung-Strategie überlegt. Unbeirrt vom angeblich so staatsgläubigen wie pessimistischen Zeitgeist sollen die Liberalen die Fahne der Marktwirtschaft hochhalten. Auf der Leinwand hinter der Bühne prangen große chinesische Schriftzeichen, die "Wirtschaftspolitik" bedeuten. Lindner hat sich für den Beginn seiner Rede sogar einen Satz auf Chinesisch aufgeschrieben. Gesellschaft und die Wirtschaft änderten sich beständig, heiße das, und das man Schritt halten müsse, unterrichtet der Vorsitzende die Delegierten. "Nach Lage der Dinge werden unsere Kinder nicht nur Englisch, sondern auch Chinesisch lernen müssen", prophezeit er sodann. Das Ziel müsse doch aber sein, dass Chinesen auch weiterhin Englisch und Deutsch lernen müssten. Doch während die Chinesen früher einmal deutsche Produkte kopiert hätten, kopiere die Bundesregierung heute chinesische Wirtschaftspolitik.
Die FDP als verlässliche Partei der Marktwirtschaft präsentiert Lindner dann auch in der Klimapolitik. Sie soll nach dem Willen des Vorstands ein zentrales Thema des 70. FDP-Parteitages sein. Das Feld wollen die Liberalen nicht den Grünen überlassen, denen Lindner "ökologischen Autoritarismus" vorwirft. Es drohten "tiefe Eingriffe in die individuelle Freiheit" der Bürger, die FDP hingegen setze auf einen effizienten Emissionshandel. Die Klimapolitik, sagt er, sei eben ein Feld für "profilierte Auseinandersetzungen", wobei Lindner nach "pro" eine Kunstpause macht, was ihm Lacher beschert. Lindner hatte den schulstreikenden Schülern empfohlen, die technologischen Feinheiten in der Klimapolitik Profis zu überlassen. Ernst nehme man die Schüler, betont er, indem man ihnen auch widerspreche. Damit überzeugt er womöglich nicht die Fridays-for-Future-Bewegung, einen Saal voller FDP-Delegierte aber hat er damit klar auf seiner Seite. Bei der Wiederwahl ein paar Stunden später erhält der Vorsitzende dann 86,6 Prozent der Stimmen. Lindner ist zufrieden, am Ende ist seine Rechnung aufgegangen.
Das gilt erst recht, als es um die Wahl der neuen Generalsekretärin geht. Die FDP sei zwar nicht die größte Partei, "aber ganz bestimmt die optimistischste", verbreitet Teuteberg Enthusiasmus. Mit Erfolg. 92,8 Prozent wählen die 38-jährige Ostdeutsche zur Nachfolgerin von Nicola Beer. Diese ist es, die von der Partei abgestraft wird. Nur 58,5 Prozent der Delegierten wählen die Europa-Spitzenkandidatin zur Vizevorsitzenden.