Eva Menasse über Österreich:Österreicher sind begabte Selbsthasser

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"Diesmal ist es anders, größer, umfassender, folgenreicher." Eva Menasse. (Foto: Friedrich Bungert)

Das Ibiza-Video hat gezeigt, dass Österreichs Politik wenig mit der Ära Bruno Kreiskys gemein hat. Warum die österreichische Bevölkerung endlich Verantwortung übernehmen muss.

Gastbeitrag von Eva Menasse

Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Ibiza-Videos vor drei Jahren hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit allem Nachdruck und, so vermute ich, sogar mit voller Überzeugung in die Kameras gesagt: "So sind wir nicht - so ist Österreich nicht." Man muss sich nur die Kommentare auf Youtube neben dem Video anschauen (einer lautet: "Nein, noch viel schlimmer"), und schon lacht man es wieder, dieses typisch österreichische Lachen, mit dem man nicht mehr aufhören kann, ein Lachen, das schnell wehtut und den Grad der eigenen Verzweiflung anzeigt. Lachen, Weinen, Schämen, Ungläubigkeit - es ist doch immer wieder alles eins.

Inzwischen sind noch ein paar andere Kleinigkeiten geschehen. So ist aufgeflogen, dass der strahlend junge Ex-Kanzler Sebastian Kurz, das vermeintliche europäische Politik-Wunderkind, seinen ganzen Erfolg bloß auf Betrug und Manipulation aufgebaut hat. Dass ihm dabei unter anderem das typisch österreichische System der "Inseraten-Korruption" in die jugendlich-beweglichen Hände gespielt hat. Daraus folgte aktuell, dass Österreich im internationalen Index der Pressefreiheit um spektakuläre 14 Plätze abgestürzt ist.

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Ich würde den Bundespräsidenten ganz gern fragen, ob er seinen Satz von damals heute so wiederholen würde; ob er immer noch glaubt, dass wir nicht so sind. Oder ob nicht vielleicht doch eher Bruno Kreisky recht hatte, der einmal sagte, man müsse "dem Land seinen Genierer zurückgeben, den es fast nie besessen hat".

Wir spüren den moralischen Abgrund, der sich auftut

Gleichzeitig ist das, was ich gerade sage, unheimlich fad. In ganz Europa weiß man, dass die Österreicher nicht nur gute Tänzer und Skifahrer, sondern auch äußerst begabte Selbsthasser sind. Die "Österreich-Beschimpfung" ist längst ein eigenes literarisches Genre, das etwa deutsche Feuilletonisten aus dem Effeff herbeizitieren können. Ein anderes beliebtes Schlagwort ist der sogenannte Anti-Heimat-Roman - auch meinem Roman "Dunkelblum" wird das seit seinem Erscheinen ständig umgehängt. Vermutlich sind die Begriffe "Anti-Heimat-Roman" und "Österreich-Beschimpfung" in Wahrheit von der Österreich-Werbung erfunden worden. Darin sind wir nämlich echt genial - wir schaffen es, aus fast allem noch eine Marke zu machen. So auch nach dem Strache-Video: Alle Österreicher in Berlin, die ich kenne (auch ich selbst), suhlten sich geradezu darin, dass wir in Peinlichkeit eben von wirklich niemandem übertroffen werden. Aber vielleicht ist das der einzige Ausweg, um die Scham erträglich zu machen. Den ganzen Wahnsinn mit Humor zu nehmen.

Es ist ein alter Trick, Fragen, die man schwer beantworten kann, umzudrehen wie einen Handschuh und zu schauen, ob man dann mehr damit anfängt. Und siehe da, bei "wer wir nicht sind" stoße ich gleich wieder auf Bruno Kreisky. Wir sind nämlich nicht wie Kreisky, schon lange nicht mehr, nicht einmal ein bisschen. Wenn man von heute aus mehr als ein halbes Jahrhundert zurückschaut, dann sehen diese dreizehn Jahre seiner Kanzlerschaft wahrlich aus wie das Goldene Zeitalter. Was wurde damals nicht alles angepackt, verändert, reformiert, modernisiert! Bildung für alle, Gratisschulbücher, Frauenrechte, Justizreform ... das ganze Land vom Keller bis zum Dach durchgelüftet und umgebaut.

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Und welches Ansehen Österreich damals gehabt hat! Österreich in seiner Randlage, geradezu eingequetscht zwischen den beiden Blöcken, dieses kleine Land hatte damals eine wichtige und anerkannte Funktion. Nämlich die des diskreten Vermittlers und Gastgebers auf neutralem Boden, wo sich die Mächtigen treffen konnten. Heute dagegen ist sogar der österreichische Nachrichtendienst aus dem europäischen Netzwerk der Geheimdienste ausgeschlossen, weil uns seit der von einem rechtsradikalen Innenminister verschuldeten Hausdurchsuchung keiner mehr über den Weg traut. Man ertappt sich bei dem Gedanken, froh zu sein, dass Kreisky das nicht mehr erleben musste.

Aber genau deshalb sollten wir einhalten und zurückblicken; um den atmosphärischen Unterschied zu ermessen und zu erfühlen, der zwischen einer Persönlichkeit wie Kreisky und seinen jüngsten Nachfolgern im Amt des österreichischen Bundeskanzlers liegt. Kurz bevor er Kanzler wurde, sagte Bruno Kreisky: "Wir wollen ein modernes Österreich aufbauen, im wirtschaftlichen und kulturellen Sinn, mit einer zeitgemäßen Verwaltung und einem Rechtswesen, das den Menschen und seine Rechte zu schützen weiß (...), in dem die Grundsätze der Humanität zum kategorischen Imperativ unseres Staatslebens werden; in dem einer nicht untergeht, weil er arm oder hilflos ist". Ich muss hier nicht Sätze aus dem Ibiza-Video oder den Chatprotokollen zwischen den Kurz-Prätorianern dagegenhalten und auch nicht die Art und Weise, wie in den letzten Jahren immer wieder Schulkinder und Lehrlinge über Nacht abgeschoben wurden - wir spüren den moralischen Abgrund, der sich auftut.

Kreisky hat als Kanzler so viel erreicht, dass man sich heute die Augen reibt

Bruno Kreisky war natürlich ein Kind seiner Zeit. Seine politischen Überzeugungen gründeten in den Erfahrungen seiner Jugend in den Zwanziger- und Dreißigerjahren - der Weltwirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit und der gesellschaftlichen Extremisierung. Der Sohn aus gutbürgerlichem Haus, der schon als Schüler das erste Mal demonstriert hatte, saß in den Lagern der Austrofaschisten und der Nazis, er wurde in der Gestapo-Haft gefoltert und verlor dort zwei Zähne. Kreisky konnte nach Schweden flüchten. Doch der überwiegende Teil seiner Familie wurde im Holocaust ermordet.

In seiner Kanzlerschaft hat Kreisky jedenfalls so viel erreicht, dass man sich heute die Augen reibt: Denn er schob eben nicht nur diese immense Modernisierung auf allen Ebenen der österreichischen Gesellschaft an, sondern machte sich auch um die großen Themen auf dem internationalen Parkett verdient. Den Club of Rome nahm er nicht nur wahr, sondern organisierte dazu eine Konferenz in Salzburg. Die Klimakrise war Kreisky also damals bereits bewusst, und es sind unsere Nachfolge-Generationen, die wir uns vorwerfen lassen müssen, sie für Jahrzehnte wieder aus den Augen verloren zu haben.

Aber wir sind alle, wie Kreisky, Kinder unserer Zeit. Was bedeutet das für den aktuellen Zustand der österreichischen Politik? Hier ein Exkurs zu meinem Vater. Er war ein bekannter Fußballspieler der 50er-Jahre, als Österreich mit an der Weltspitze spielte. Auf die Frage, warum das Niveau des österreichischen Fußballs in den Jahrzehnten danach so dramatisch gesunken sei, sagte er immer: Weil es den Leuten inzwischen besser geht. Er meinte das nicht im Sinn von "zu gut". Es war bloß die Analyse der Zusammenhänge: Ein Kind damals hatte wenig anderes als den Sport. Bis heute sind es oft Kinder aus kleinen Verhältnissen und Einwandererfamilien, die den Biss haben, sich bis in die Spitzenklasse der verschiedenen Sportarten hinaufzutrainieren. Sport ist eine Möglichkeit des Aufstiegs, Ehrgeiz und Talent können den Weg in ein besseres Leben ebnen. Aber wenn das Leben schon gut genug ist?

Ähnlich verhält es sich mit dem Personal in der Politik. Politik ist eine Möglichkeit der Mitgestaltung, wenn man davon überzeugt ist, dass es der eigenen Einmischung, des eigenen Engagements dringend bedarf. Bruno Kreisky hätte nach dem Zweiten Weltkrieg in Schweden bleiben und die Firma seines Schwiegervaters übernehmen sollen; er entschied sich für die Rückkehr in das in vieler Hinsicht zerstörte Österreich.

Die gut ausgebildeten, intelligenten Österreicher mit dem funktionierenden moralischen Kompass, die gibt es natürlich heute wie zu allen Zeiten. Sie gehen aber kaum mehr in die Politik. Die guten Leute heute bleiben fern oder sie flüchten schnell wieder in die Privatwirtschaft. Individuell kann man niemandem einen Vorwurf machen, insgesamt sollte es uns aber schon zu denken geben, dass die österreichische Politik in letzter Zeit gerade für die dreisten Blender, Lügner, Betrüger und eigennützigen Manipulatoren so anziehend geworden ist wie für süditalienische Bauernsöhne die Mafia.

Zusammengefasst: Der moralische Zustand des heutigen Österreich geht auf das Konto der heutigen Österreicher. Wir lassen das zu, und daher sind wir so, wenn auch in der gegenteiligen Bedeutung als jener, die der Bundespräsident im Sinn hatte.

Gibt es dann überhaupt eine rechtzeitige Möglichkeit zur Umkehr? Oder braucht es wirklich erst eine Katastrophe wie einen Weltkrieg? Wäre nicht heute, nach dem Desaster von Strache und Kurz, der Zeitpunkt dafür? Angesichts eines Nachfolgers, der weiterhin gegen jeden Augenschein dreist behauptet, die ÖVP habe kein Korruptionsproblem?

Als geborener Pragmatiker wusste Kreisky, dass man die wichtigen Dinge selbst dann anpacken muss, wenn man noch nicht genau weiß, wie und ob man sie zufriedenstellend zu Ende bringt. An dessen Grab sagte Willy Brandt: "Seine Weltsicht und sein Mut zum Unvollendeten werden uns fehlen. Seine Welt war größer als sein Land." In diesem Sinne hoffe ich schon fast verzweifelt, dass sich alle jene Österreicher, deren Welt größer ist als ihr Land, endlich aufraffen, Verantwortung übernehmen und es anpacken, mit viel Mut, auch zum Unvollendeten. Aber vor allem mit dem Mut zur Veränderung. Damit wir nicht länger so sein müssen, wie wir derzeit gerade sind.

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Die österreichische Autorin Eva Menasse erhielt am 1. Juni 2022 den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2021 für ihren Roman "Dunkelblum". Der Text ist eine von der Autorin gekürzte Fassung ihrer Festrede.

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