Eva Menasse: "Dunkelblum":Puppenhäuser der Verbrecher

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Die Gräber der in Rechnitz ermordeten Juden wurden nie gefunden. Deswegen ist heute der "Kreuzstadl", Schauplatz des Massakers, die Gedenkstätte am Ort. (Foto: wikipedia/Lucky18)

Eva Menasse erzählt in ihrem Roman "Dunkelblum" noch einmal vom Massaker in Rechnitz. Dabei macht sich deutlich die Wirkung ihrer literarischen Ethik bemerkbar.

Von Hanna Engelmeier

In einem der Erzählstränge von Eva Menasses Roman "Dunkelblum" reist eine Gruppe Studierender im Jahr 1989 in das fiktive Dorf Dunkelblum im österreichischen Burgenland, um den örtlichen jüdischen Friedhof zu sanieren. Eines nachts wird der Friedhof geschändet, die Gräber mit antisemitischen Parolen beschmiert. Bürgermeister Koreny ist sich sicher: "Eine Jugendtorheit, eine b'soffene G'schicht, etwas, dessen Konsequenzen sicher nicht bedacht und nicht beabsichtigt gewesen sein können. Ganz sicher nicht! So sind die Leute hier nicht!"

Sind sie doch. Denn bei Dunkelblum handelt es sich um eine Chiffre für den Ort Rechnitz unweit der ungarischen Grenze. Hier stand bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ein Schloss im Besitz der Gräfin Margit Batthyány-Thyssen, Erbin des Vermögens aus dem Thyssen-Konzern. Vor Palmsonntag 1945 feierten örtliche SS-Leute und deren Kollaborateure als Gäste der Gräfin ein Fest. Teil dieser Lustbarkeit war ein Massaker an etwa 200 jüdischen Zwangsarbeitern. Nach dem Massenmord feierten die Täter weiter.

Eine umfassende Aufklärung dieses Verbrechens scheiterte grausam: Zwei Zeugen wurden ermordet, andere schwiegen für immer. Die beiden Hauptverantwortlichen setzten sich ins Ausland ab, mithilfe der Gräfin, die selbst in der Schweiz lebte, wo sie 1989 starb.

Offenbar will sie zeigen, dass auch heute aus Verbrechen schnell eine "b'soffene G'schicht" wird

Von der Abwehr dieser Vergangenheit, der fortgesetzten Mittäterschaft durch das "tosende Dunkelblumer Schweigen" und die Vergiftung der Gegenwart erzählt Menasse. Ihr Fokus ist das soziale Netz, dessen Maschen verdecken, was in der Nacht vom 24. März 1945 geschah. Was das Ereignis selbst betrifft, versagt sie sich jede Beschreibung.

In einem Interview hat Menasse erklärt, es sei ihr nicht allein um den Ort Rechnitz gegangen, sondern auch um all die anderen Orte der Gegend, in der zur gleichen Zeit Massaker geschehen seien. Die Verdichtung an einem einzigen Ort diene der monumentalen Aufgabe, "eine paradigmatische Menschheitsgeschichte, wie sie eben immer wieder passiert", zu schreiben.

Paradigmatische Menschheitsgeschichten bieten im besten Fall Lehren fürs Jetzt an. Eine erste könnte sich hinter der Frage verbergen, ob "paradigmatische Menschheitsgeschichte" eine treffende Beschreibung für einen Massenmord ist, der in einer bestimmten historischen Konstellation begangen wurde. Offenbar will Menasse aber zeigen, dass auch das Jetzt, zumindest das österreichische Jetzt, nach wie vor durch einen Umgang mit der Vergangenheit bestimmt ist, der Verbrechen zum Ergebnis einer "b'soffenen G'schicht" werden lässt. So hatte schließlich auch der rechtsextreme FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache gesprochen, als 2019 das Ibiza-Video seine Bereitschaft zur Korruption dokumentierte.

Das dezentrale Erzählen ist durch die amerikanischen Fernsehserien der letzten Jahrzehnte erprobt

Dieser Umstand ist bekannt, und auch dass die Aufklärung vieler Details der Ermordung der europäischen Juden systematisch verhindert worden ist. Der Fall Rechnitz ist seit den 1990er-Jahren Gegenstand unter anderem verschiedener Dokumentationen, eines Theaterstücks von Elfriede Jelinek und eines Sachbuchs von Sacha Batthyany, des Großneffen von Margit Batthyány-Thyssen gewesen. Nicht weniger geläufig sind, besonders in der österreichischen Literatur, Romane, die sich der Idiotie des Landlebens mit einem Schwerpunkt auf die Sprachlosigkeit hinsichtlich der eigenen Verstrickungen in den Nationalsozialismus widmen. Sie sind ein Lebensthema des Büchnerpreisträgers Josef Winkler, neuere Exemplare stammen von Raphaela Edelbauer ("Das flüssige Land", 2019) oder Helena Adler ("Die Infantin trägt den Scheitel links", 2020). Warum also noch mal das Ganze, und warum in Form eines Romans, der in süffigen Austriazismen und Abschweifungen in das Leben größtenteils bigotter Dörflerinnen und Dörfler schwelgt?

Auf formaler Ebene interessiert Menasse vor allem ein dezentrales Erzählen, wie es durch die großen amerikanischen Fernsehserien der letzten beiden Jahrzehnte erprobt ist. Die kurzen Kapitel des Romans stellen in der Regel eine Figur in den Mittelpunkt, deren Verstrickung in die Geschichte des Ortes durch ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn plastisch wird. Wir begegnen dem Sohn von Eszter Lowetz, der nach dem Tod seiner Mutter aus der Großstadt nach Dunkelblum zurückkehrt, mit dem Blick des urbanen Ignoranten auf das Dorf schaut, aber durch die Mithilfe einer aufgeweckten jungen Einheimischen zu sehen lernt. Gespiegelt wird Lowetz' eher glückliches Exil in dem des jüdischen Heimkehrers Alexander Gellért, der sich, noch unter dem Namen Goldblum, während der letzten Kriegstage bei Lowetz' Mutter versteckt hatte. Weitere Auftritte haben unter anderem der Hobbyhistoriker Rehberg (eigentlich Reisebürobesitzer), der grausame Schlächter Horka (am Massaker beteiligt und dann verschwunden), sein öliger Gönner Dr. Alois Ferbenz, die Biobauern Malnitz, ein jüdischer Krämer namens Antal Grün und das ehemalige Mobbingopfer "geflickter Schurl", der einst das Schweigen des Ortes brechen wollte und von seinen Nachbarn bestraft wurde.

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Für das historische Argument, das der Roman vorträgt, ist von Bedeutung, dass die Geschichte 1989 spielt, also in dem Jahr, in dem das vielbesungene "Ende der Geschichte" dann zwar doch nicht einsetzte, sich aber zumindest die spezifisch österreichische Perspektive auf die Verquickung von geografischer und kollektivpsychologischer Lage änderte. Viele Grenzen zum Ostblock öffneten sich, und für Menasse endet eigentlich erst so der Zweite Weltkrieg. Tragen muss die historische Last aber ein einsamer Sachse namens Reinhold, der über Ungarn aus der DDR geflohen ist und nun unverschuldet in die nationalsozialistische Wiederaufbereitungsanlage Dunkelblum gerät.

Sie versuche, mit ihren Figuren "kollaborativ" umzugehen, sagt Menasse

Im Ort steht, so zeigt ein von Nikolaus Heidelbach gezeichneter Plan auf dem Vorsatzblatt des Buches, in der Mitte eine Pestsäule. Wie alle Straßen im Ort auf diese Säule zulaufen, laufen auch die Leben der Figuren immer wieder auf die beschwiegene Gewalt des Ortes im Zweiten Weltkrieg zu. Teilweise verliert sich der Roman dabei in Detailfreude, manche Motive der Erzählung werden bis ins Letzte aufgelöst: Wenn auf Seite 106 ein Stahlhelm ungeklärter Herkunft auftaucht, muss er 107 Seiten später noch einmal einen Auftritt haben - und überdeutlich darauf verweisen, was alles der Aufklärung harrt. Ein Roman kann aber die Geschichte nicht reparieren, und je stärker ein Plot alle fransigen Enden der Wirklichkeit zu verweben sucht, desto weniger erscheint er als das, wonach Menasse strebt: eine repräsentative Schau komplexer Verhältnisse.

Gleich auf der ersten Seite wird die Erzählerstimme profiliert: Von ganz oben nimmt sie Einblick in die "Puppenhäuser" eines "Modellstädtchens". Die Dunkelblumer dürfen froh sein, dass Menasse hier die Perspektive des lieben Gottes einnimmt, dessen Verhältnis zu Mittätern und -wissern des antisemitischen Kriegsverbrechens ungefähr so wirkt wie das eines Puppenspielers im Marionettentheater. Der Zeitschrift Profil sagte Menasse, sie habe etwas dagegen, Romanfiguren "aus dem Wissen historischer Seminare heraus hochmütig vorzuschreiben, dass sie damals keine Nazis hätten sein dürfen". Sie versuche vielmehr, mit diesen Figuren "kollaborativ" umzugehen.

Tatsächlich ist es unangenehm, beim Lesen Zeugin der Denunziation von Romanfiguren durch Autorinnen oder Autoren zu werden. Nicht weniger unangenehm ist es aber, an Menasses Kollaboration Anteil zu nehmen. So sehr man es begrüßen kann, dass sie sich gegen historische Selbstgerechtigkeit richtet und versucht, komplexe Lebensläufe zu entwerfen, werden daraus doch nicht unbedingt komplexe Figuren. Denn deren Vergehen ist in jedem einzelnen Fall von Anfang an mehr oder weniger klar, die Figuren erfahren immer mehr über die Ereignisse von 1945, erleben aber keinen transformativen Erkenntnisgewinn. Mit jeder Umdrehung des Erzählbetriebs wird die Geschichte weiter ausgewalzt. So entsteht Fläche, aber keine psychologische oder historische Tiefe.

Besonders der Wille, durch Dialekt oder dialektal gefärbte Grammatik eine verführerische sprachliche Oberfläche herzustellen, bräuchte dringend ein Gegengewicht in den Gedanken der Figuren, die in mehr bestehen müssten, als nichts mit Kriegsverbrechen aus Opportunismus zu tun haben zu wollen. Sonst bleibt von dem kollaborativen Zugriff, den Menasse für sich reklamiert, vor allem das Bedürfnis nach einem gemütlichen Beisammensein mit jenen, die, wie sie sagt, "nicht alle verstockt, gemein und in ihren Herzen Nazis" waren. Und wenn doch, gehen sie in der idyllischen Welt der Romanhandlung schnell hops.

Eva Menasse: Dunkelblum. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 528 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Der Roman ist bereits kurz nach seinem Erscheinen als "Geniestreich" begrüßt worden. Er kann allerdings schwerlich jenseits der literarischen Ethik betrachtet werden, die Menasse seit einigen Jahren ausdrücklich verfolgt. Deren Programm richtet sich vor allem gegen das, was sie 2018 in ihrer Rede zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals in Berlin als "pseudokorrekte Inquisition" bezeichnete. "Ich werde niemals gender-,gerecht' schreiben", führte sie an anderer Stelle aus, "ich werde immer ungerecht, subjektiv, stur und nach meiner eigenen Façon schreiben. Sexisten und Rassisten dürfen weiterhin in meinen Texten auftreten, sonst wäre das literarische Abbild der Welt ja geschönt." In ihrer Rede erklärte sie weiter, vor dreißig Jahren habe man insbesondere in Österreich noch unbekümmert Formulierungen wie "durch den Rost gefallen" verwendet, "ohne dass man die infame Nähe zu Gaskammern und Verbrennungsöfen bedacht hätte. Das war jedenfalls in Österreich noch bis in die 80er-Jahre problemlos möglich." So geht Menasse nun auch in ihrem Roman vor, der damit allerdings weniger gepflegtes Archiv politisch unbekümmerten Sprachgebrauchs, sondern immer wieder Anlass zu dessen Aktualisierung wird.

In der Arbeit mit Quellen in historischen Untersuchungen ist es unvermeidlich, mit solcher Sprache umzugehen. Dabei macht der Rahmen und die Einordnung der Autorin ihre Distanz deutlich. In literarischen Texten kann eine Erzählerin durch Figurenrede, indirekte Rede und Ironie ihr Verhältnis zum Dargestellten markieren. Das tut auch Eva Menasse. Die Frage wäre nur, ob nicht andere Formen als die der sprachlich-psychologischen Kollaboration mit den Figuren geeigneter wären, ein ungeschöntes Bild der Welt zu schaffen. Warum sollte Verfremdung dazu weniger in der Lage sein, was ist mit den Mitteln der Groteske, des Suspense?

Wer wie Menasse mit Gusto die unterkomplexen Argumentationsweisen sowohl einer als bloß tumb verstandenen Rechten als auch einer als moralinsauer beschriebenen Linken kritisiert, dürfte sich in seiner Poetik mehr zutrauen, als die sogenannte Wirklichkeit zu einer originalgetreuen Modelleisenbahnlandschaft zu verarbeiten.

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