Es kann gut sein, dass es einmal heißen wird: Die angloamerikanischen Geheimdienste haben sich um den Datenschutz in Deutschland und in Europa verdient gemacht. Es kann gut sein, dass die Totalität und die Monstrosität der geheimdienstlichen Zugriffe auf Telekommunikation und Internet den Zorn, die Empörung und den Widerstand in einer Weise befruchtet, dass die europäischen Grundrechte wirklich zu leben beginnen; bisher leben sie nur auf dem Papier.
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gibt es den Artikel 7: "Jede Person hat das Recht auf die Achtung ihrer Kommunikation." Und es gibt den Artikel 8: "Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten." Man kann aber nicht behaupten, dass diese Grundrechte bisher irgendwo und irgendwie eine große Rolle gespielt hätten.
Das könnte sich jetzt ändern. Der EU-Gerichtshof in Luxemburg verhandelt zwar nicht gegen die Geheimdienste NSA und GCHQ. Er verhandelt aber über die EU-Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung, die das Horten von Daten in gewaltigem Umfang erlaubt: Wer hat mit wem wie lange telefoniert? Wer hat an wen eine SMS oder eine E-Mail verschickt? Wer hat Kopien davon bekommen? Wer hat wann und wie oft Seiten im Internet aufgerufen?
Die Richter haben Fragen. Sie sind skeptisch
Die EU-Regeln zur Vorratsdatenspeicherung erlauben den staatlichen Zugriff auf unendlich viele Daten und deren Speicherung. Die geheimdienstlichen Datenaufsaug-Programme begnügen sich aber, wie die aktuellen Skandale zeigen, damit noch nicht. Bei den Geheimdiensten gilt offenbar das Wort, das einst der Famulus Wagner zu Faust gesagt hat: "Zwar weiß ich viel, doch will ich alles wissen!" Es ist dies wohl das heimliche Motto etwa des britischen Spähprogramms "Tempora".
Staatliche Geheimdienste tun völlig ungeniert, was sie nicht tun dürfen: Das ist die Kulisse, vor der der EU-Gerichtshof am 9. Juli über die Vorratsdatenspeicherung verhandelt. Der Gerichtshof befasst sich mit Klagen Österreichs und Irlands; die höchsten Gerichte dort haben dem EU-Gericht ihre Zweifel an der Vorratsdatenspeicherung vorgelegt. Und das Gericht hat den Beteiligten, also der EU-Kommission und Co., schon vorab ungewöhnlich scharfe Fragen zur "Konzentration der mündlichen Ausführungen in der Verhandlung" vorgelegt. In den Fragen spiegelt sich viel Skepsis gegenüber der Vorratsdatenspeicherei. Der Süddeutschen Zeitung liegen die Fragen vor.
Die Richter erkunden die Zielsetzung und den Nutzen der Vorratsdatenspeicherung, sie wollen wissen, "ob und inwieweit es möglich ist, anhand der gespeicherten Daten Persönlichkeitsprofile zu erstellen und zu benutzen, aus denen sich das soziale und berufliche Umfeld einer Person, ihre Gewohnheiten und Tätigkeiten ergeben". Sie wollen wissen, warum eine Speicherung der Daten über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erforderlich sein soll. Sie wollen wissen, welche Statistiken es gibt, aus denen sich schließen lässt, "dass sich die Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten seit dem Erlass der Richtlinie verbessert hat".
Die Verteidiger der Vorratsdatenspeicherung werden sich da schwertun; solche Statistiken gibt es nämlich nicht. Die Richter weisen auch darauf hin, dass sich der "Schutz der personenbezogenen Daten auf das absolut Notwendige beschränken" muss, und sie fragen, ob "angesichts der Bedeutung der betroffenen Grundrechte" davon ausgegangen werden könne, dass "die Sicherheitsvorkehrungen hinreichend präzise sind, um einen Missbrauch zu verhindern".
Experten in den zuständigen deutschen Ministerien sind überrascht von der "Prüfungstiefe und dem Prüfungsumfang", die sich das EU-Gericht vorgenommen hat. Die Fragen seien "revolutionär". Deutschland hat angesichts des Streits zwischen dem FDP-geführten Bundesjustizministerium und dem CSU-geführten Bundesinnenministerium keine schriftliche Stellungnahme zum Gerichtsverfahren abgegeben. Es kann gut sein, dass sich der schwelende Streit zwischen den Ministerien auf sehr überraschende Weise erledigt - wenn der EU-Gerichtshof die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zerreißt. Dann erledigt sich auch das Klageverfahren, das die EU-Kommission vor dem EU-Gerichtshof wegen Nichtumsetzung der EU-Richtlinie angestrengt hat.
Das Bundesverfassungsgericht hatte das deutsche Ausführungsgesetz zur EU-Vorratsspeicher-Richtlinie im März 2010 für verfassungswidrig erklärt und die deutschen Telekommunikationsanbieter zur sofortigen Löschung aller bisher gesammelten Daten verpflichtet. Eine verfassungskonforme Neuauflage des deutschen Ausführungsgesetzes scheiterte am erbitterten Streit zwischen FDP und CDU/CSU, zwischen Justiz- und Innenministerium.
Das Verfassungsgericht in Karlsruhe hatte in seinem Urteil von 2010 die gesamte Sammelei von Telekommunikationsdaten auf Vorrat für suspekt gehalten. Es sei dies ein "schwerer Eingriff" in die Bürgerrechte, "mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt". Die Speicherung der Daten ermögliche "die Erstellung aussagekräftiger Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch jeden Bürgers". Die Vorratsdatenspeicherung, so war das richterliche Fazit, bedrohe auch sämtliche Berufsgeheimnisse.
Angesichts dessen hätte Karlsruhe eigentlich nicht nur das deutsche Ausführungsgesetz zur EU-Richtlinie, sondern auch die Richtlinie selbst zerreißen oder zumindest brandmarken müssen. Um die EU-Richtlinie zu zerreißen, hätte Karlsruhe aber erklären müssen, dass die EU mit dieser Richtlinie ihre Kompetenzen überschritten habe; das trauten sich die Verfassungsrichter nicht. Und um die EU-Richtlinie zu brandmarken, hätte Karlsruhe diese dem EU-Gerichtshof in Luxemburg vorlegen müssen. Das wollte Karlsruhe auch nicht - vielleicht deshalb nicht, weil man die Oberhoheit der Luxemburger nicht anerkennen will; vielleicht auch einfach deshalb nicht, weil man dem Grundrechtsschutz durch das Luxemburger Gericht nicht traut.
Geht alles, wenn es um Sicherheit geht?
Die höchsten Gerichte in Österreich und Irland haben also das getan, was das höchste Gericht in Deutschland nicht gewagt hat: Sie haben die Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie dem EU-Gericht vorgelegt. Und jetzt bläst der Sturm der öffentlichen Empörung über den Zugriff der Geheimdienste aufs Internet den Vorratsdatenspeicherern ins Gesicht. Die Befürworter des Speicherns werden sich schwertun, die in den schriftlichen Fragen der Luxemburger Richter spürbare Skepsis auszuräumen: Ein Evaluierungsbericht der EU-Kommission über die bisherigen Erfahrungen mit der Vorratsdatenspeicherung fiel so miserabel aus, dass er als Begründung für die Richtlinie untauglich ist.
Der Bericht hatte zwar die Datenspeicherung als "notwendig" für die Abwehr und Bekämpfung von Straftaten bezeichnet, aber zugleich schwere Mängel sowohl der Richtlinie selbst, als auch ihrer praktischen Umsetzung eingeräumt und eine Umarbeitung der Richtlinie angekündigt. Daraus ist aber bisher nichts geworden. Womöglich beginnt sich der EU-Gesetzgeber jetzt so zu verhalten, wie dies der deutsche Gesetzgeber schon lange tut: Man wartet auf Direktiven vom höchsten Gericht.
Die Zweifel an der Vorratsdatenspeicher-Richtlinie betreffen nicht nur ihre Vereinbarkeit mit den EU-Grundrechten; die Grundrechte-Charta wurde erst nach dieser Vorratsdaten-Richtlinie wirksam und stellt jetzt deren Legitimität infrage. Die Zweifel beginnen schon bei der Rechtsgrundlage: Die Vorratsdatenspeicherung sollte der Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung dienen. Man brauchte dazu eigentlich einen Rahmenbeschluss.
Weil der aber im Ministerrat Einstimmigkeit erfordert und diese nicht herzustellen war, klaute man sich eine Rechtsgrundlage, bei der die Mehrheit der Stimmen reicht: Man entdeckte die Rechtsgrundlage in den Bestimmungen über den Binnenmarkt. Man tat also einfach so, als ginge es bei der Vorratsdatenspeicherung der Telekommunikationsdaten nicht um eine Maßnahme der inneren Sicherheit, sondern um eine Wettbewerbsregelung für die Provider. Zum Zwecke einer europaweiten Regelung der Vorratsdatenspeicherung wurde eine Sicherheitsmaßnahme als Wirtschaftsmaßnahme ausgegeben.
Geht alles, wenn es um Sicherheit geht? Das ist die Frage, die der EU-Gerichtshof in seiner Verhandlung über die Vorratsdatenspeicherung am 9. Juli beantworten muss.