Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn:Wieso Orbán alle EU-Fördergelder verlieren könnte

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Viktor Orbán kürzlich auf dem Nato-Gipfel in der spanischen Hauptstadt Madrid. (Foto: Beata Zawrzel/IMAGO/ZUMA Wire)

Ein neues Rechtsgutachten argumentiert, dass Ungarn so regelmäßig und weitreichend gegen demokratische Prinzipien verstößt, dass Brüssel nichts mehr überweisen sollte. Dies setzt Ursula von der Leyen unter Druck.

Von Matthias Kolb, Straßburg

Die EU-Kommission hätte die Möglichkeit, Ungarn wegen "fundamentaler, regelmäßiger und weitreichender Verstöße" gegen demokratische Prinzipien und Rechtsstaatlichkeit die Auszahlung sämtlicher EU-Fördergelder zu verweigern. Dies fordern drei Juristen in einem Gutachten, das am Mittwoch im Europaparlament vorgestellt wurde. Die Behörde hatte Ende April den Rechtsstaatsmechanismus ausgelöst. Dieser wurde eingeführt, um die rechtmäßige Verwendung von EU-Fördergeldern zu sichern und den EU-Haushalt zu schützen.

Damals wurde Ungarn vorgeworfen, dass es etwa bei der Vergabe öffentlicher Aufträge an Transparenz ebenso fehle wie am Willen, Betrug und Korruption zu bekämpfen. Ein hochrangiger Kommissionsbeamter hielt fest, dass sich die Regierung von Viktor Orbán "seit mehr als zehn Jahren beharrlich weigert, alle Vorschläge für Reformen umzusetzen". Damit begann ein Prozess, der wegen diverser Stellungnahmen Monate dauert. In Brüssel traf Ende Juni die Antwort aus Budapest ein - nun soll die Kommission bis Ende Juli die Strafen festlegen.

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In der Studie wird geprüft, welche Maßnahmen "angemessen" und "verhältnismäßig" wären. Kim Scheppele von der Elite-Universität Princeton, Daniel Kelemen von der US-Universität Rutgers und John Morijn aus Groningen beschreiben die Lage ebenso düster wie akkurat: In Ungarn werde die Rechtslage "ständig" verändert, "die Systeme zur Verwaltung der Budgets versagen, die Untersuchungsbehörden sind leistungsschwach, und den Gerichten und Staatsanwaltschaften fehlt es an Unabhängigkeit". Es sei "nur schwer" anzunehmen, dass diese Missstände auf einzelne Bereiche begrenzt sein oder die "weit verbreitete Korruption" nur im Umgang mit den nationalen Geldern anfallen würden. Daher sei es zwingend, die Zahlungen zu 100 Prozent einzustellen.

Eindrücklich ist dieses Bild: "Das gesamte Trinkwasser, das durch bleihaltige Leitungen fließt, muss als kontaminiert gelten." Für Ungarn bedeutet dies: ohne grundlegende Reformen keine EU-Fördergelder mehr. Die sind für Orbán enorm wichtig, denn es geht um eine Summe von etwa sechs Milliarden Euro - Jahr für Jahr. 2021 hatten Scheppele, Kelemen und Morijn in einer Studie beschrieben, wie Orbán unter anderem dafür gesorgt hat, dass viele seiner Günstlinge von EU-Aufträgen profitieren.

Kritiker werfen von der Leyen vor, den Rechtsstaat zu wenig zu schützen

Nun liegt der Fokus etwas anders. Die Juristen betonen, dass für die Bestimmung des Strafmaßes keine neue Methodik nötig ist. Sie verweisen etwa auf die Durchführungsverordnung 2017/656 sowie die Verordnung 2021/1060, die sich mit milliardenschweren Förderprogrammen wie dem Kohäsionsfonds oder dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung befasst - und mit der Höhe von Finanzkorrekturen. Wenn die Mängel "so grundlegend, häufig oder weit verbreitet sind, dass dies einem vollständigen Versagen des Systems gleichkommt, das die Recht- und Ordnungsmäßigkeit aller betroffenen Ausgaben gefährdet, wird ein Pauschalsatz von 100 % angewendet", heißt es im Anhang XXV.

Eine Kürzung von 25 Prozent sei angemessen, wenn Mängel "zu einem sehr schwerwiegenden Versagen des Systems" führen würden, durch das "ein sehr großer Teil der betroffenen Ausgaben" gefährdet sei. Um zehn Prozent sollen die Zuwendungen eingefroren werden, wenn "ein großer Teil" der Ausgaben gefährdet ist.

In Straßburg betont der Grüne Daniel Freund, der das Gutachten in Auftrag gegeben hat, dass Ursula von der Leyen und ihre Behörde eine juristische Entscheidung zu treffen haben: "Die EU-Kommission hat hier keinen Spielraum: Sie muss die Realitäten in Ungarn anerkennen und entsprechend der bestehenden Rechtslage handeln." Für Moritz Körner von der FDP zeigt die Studie, welche zersetzenden Folgen der Abbau des Rechtsstaats in einem EU-Land für die ganze Union hat.

Der Finne Petri Sarvamaa, der für die christdemokratische EVP den Rechtsstaatsmechanismus ausgehandelt hat, hebt einen Satz der Studie hervor: "Alles, was die EU-Institutionen zu tun haben, ist sich entsprechend der Gesetze und Praktiken zu verhalten, die bereits vor der Einführung des Rechtsstaatsmechanismus existiert haben und völlig unstrittig waren."

Es überrascht kaum, dass der Grüne Freund und der FDP-Mann Körner von der Leyen vorwerfen, den Rechtsstaat zu wenig zu schützen. Dass aber der EVP-Mann Sarvamaa über die mächtigste Christdemokratin sagt, ihre Behörde sei "der Aufgabe sehr lange nicht gewachsen" gewesen und habe zu sehr auf die Einwände mancher Mitgliedstaaten gehört, zeigt, wie groß der Unmut über die Zögerlichkeit der Kommission ist.

Sarvamaa sagt, was alle wissen: Eine so wichtige Entscheidung wie die Höhe der Strafzahlungen gegen Ungarn fällt nicht ohne das Okay der Kommissionspräsidentin. Und wenn die Zuwendungen für Budapest nicht wie nun vorgeschlagen komplett gekürzt werden, so wird sich die CDU-Politikerin fragen lassen müssen, ob sie eine solch fundamentale Frage wie den Schutz des Rechtsstaats mit anderen Erwägungen mischt.

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