Es ist kurz nach neun Uhr am Mittwochmorgen, als Antonio Tajani die Parlamentssitzung in Straßburg eröffnet. Doch so richtig mag ihm das nicht gelingen, er muss erst mit dem Holzhammer auf den Tisch hauen. Einmal, zweimal, dreimal. Es hilft nichts, die meisten Abgeordneten ignorieren ihn, sie stehen weiter verstreut im Plenarsaal. Erst als Tajani wie ein Oberlehrer "Sit down, please" sagt, bewegen sich die Parlamentarier zu ihren Plätzen. Dann setzt Tajani seine Brille auf und verliest, was auf der Tagesordnung steht. Doch halt! Eines muss er vorher noch loswerden: "Buongiorno a tutti", ruft er ins Mikrofon.
Diese Begrüßung werden die Abgeordneten auch in den kommenden zweieinhalb Jahren hören. Zwar nicht mehr von Tajani, der sein Amt als Parlamentspräsident abgeben muss. Aber dafür bleibt eine Konstante: Mit David-Maria Sassoli wählt das Europäische Parlament erneut einen Italiener zu seinem Präsidenten. Sassoli, 63 Jahre alt, gelernter Journalist, sitzt seit 2009 im Europäischen Parlament. Zuvor arbeitete der gebürtige Florentiner bei italienischen Tageszeitungen und beim Fernsehsender Rai. Sassoli gehört dem Partito Democratico an, den italienischen Sozialdemokraten.
Sassoli sagt, was man so sagt, wenn man niemandem weh tun will
Mit seiner Wahl passiert das, was die Staats- und Regierungschefs empfohlen hatten: dass ein Sozialist die erste Halbzeit der Parlamentspräsidentschaft übernimmt. Die zweite Hälfte ist für Manfred Weber reserviert. Der gescheiterte Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) dürfte das Amt in zweieinhalb Jahren übernehmen. Die Rede, die Sassoli vor seiner Wahl hielt, war nichts weiter als eine Aneinanderreihung von sehr allgemein gehaltenen Absichtserklärungen. Der Italiener will das EU-Parlament zu einem "Haus der europäischen Demokratie" machen. Er will die Wähler "nicht enttäuschen". Er will "Vertrauen herstellen". Was man eben sagt, wenn man niemandem wehtun will. Vielleicht muss das Parlament tatsächlich auf Weber warten, damit es in der breiten Öffentlichkeit Gehör findet.
EU-Spitzenjobs:Merkels Machtpoker mit Macron
Nach langem Tauziehen haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf Ursula von der Leyen als Kommissionschefin geeinigt. Die Idee dafür kommt aus Paris, doch ihre Umsetzung ist nicht gesichert.
Der neue Parlamentspräsident will sich jedenfalls dafür einsetzen, dass das Hohe Haus von den anderen europäischen Institutionen "respektiert" wird. Wie genau er das machen will, sagt er nicht. Dabei werfen nicht wenige Abgeordnete dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs wegen ihrer Personalentscheidungen Respektlosigkeit vor, besonders die Grünen, aber auch einige aus Sassolis eigener Fraktion. Die meisten Fraktionen im Parlament hatten gefordert, dass als Kommissionspräsident nur infrage kommt, wer bei der Europawahl auch als Spitzenkandidat für dieses Amt angetreten ist - was bekanntlich nicht der Fall ist.
Nur an einer Stelle wird Sassoli ein wenig emotional. Er wendet sich direkt an die Abgeordneten: "Sie verkörpern die Hoffnung und die Wut der Bürger." Das müsse man ernst nehmen. Er selbst sei jedenfalls bereit, zuzuhören.
Sassoli setzt sich schon im zweiten Wahlgang durch. Mit 345 von 662 abgegebenen Stimmen erringt er die absolute Mehrheit zwar sicher, aber sein Puffer ist klein, dafür dass EVP, Sozialdemokraten und Liberale gemeinsam im Parlament 444 Sitze haben. Das zweitbeste Ergebnis erreichte der konservative Tscheche Jan Zahradil mit 162 Stimmen, gefolgt von der deutschen Grünen-Politikerin Ska Keller mit 133 und der linken Spanierin Sira Rego mit 42 Stimmen.
Dass die EVP für diese erste Halbzeit der Parlamentspräsidentschaft noch nicht einmal einen Kandidaten aufgestellt hat, könnte aber ein erstes Zeichen dafür sein, dass der große Aufstand gegen die Personalpolitik des Rates ausbleiben könnte. Auch der Sozialdemokrat Sassoli zeigt nach seiner Wahl nicht einmal auf Nachfrage Zähne: "Wir waren davon ausgegangen, dass die Spitzenkandidaten dann automatisch zum Präsidenten gewählt werden", sagt er. "Wir müssen prüfen, an welchen Stellschrauben man noch drehen kann, um das nachzubessern." Kein Wort gegen den Rat.
Deutlicher wird dagegen die grüne Fraktionsvorsitzende Ska Keller: Bis jetzt habe das Parlament immer daran gearbeitet, stärker zu werden, weil damit letztlich auch die EU-Bürger stärker würden. "Diese Position wird jetzt herausgefordert", sagte sie in einer kurzen Ansprache nach der Wahl. "Wir dürfen jetzt nicht aufgeben und müssen die Idee weiter unterstützen, dass ein Kommissionspräsident vorher Spitzenkandidat gewesen sein sollte."
Nach der Europawahl hatten die Fraktionen in Kleingruppen an einem gemeinsamen Programm gearbeitet. Es sollte die Grundlage sein, auf der sich im Parlament eine Mehrheit auf einen der Spitzenkandidaten einigen sollte. Aber die Fraktionen wurden sich nicht einig, der Rat war schneller. In zwei Wochen will Ursula von der Leyen im EU-Parlament zur Kommissionspräsidentin gewählt werden. Ein paar Tage hätte das Parlament also noch, um zumindest den Preis zu nennen, der die Zustimmung zu einer Person kosten soll, die bei der Europawahl gar nicht angetreten ist.
Frankreichs Präsident Macron will "Theorie-Debatten" künftig unnötig machen
Auf einige Punkte hatten sich die Fraktionen sogar schon verständigt. So wollten sie ein Initiativrecht für Gesetze fordern und mehr Untersuchungsmöglichkeiten für Sonderausschüsse des Parlaments, die die Kommission kontrollieren. Offiziell läuft der Prozess für das gemeinsame Programm im Parlament noch. Allerdings sind weitere Treffen der Arbeitsgruppen im Moment nicht angesetzt.
So könnte es sein, dass der Rat nun sogar da die Initiative ergreifen muss, wo es um neue Rechte für das Parlament geht. Am Abend nach dem Sondergipfel sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dass der scheidende Ratspräsident Donald Tusk gemeinsam mit Guy Verhofstadt, dem früheren Chef der Liberalen im Europaparlament, daran arbeiten werde, ein besseres System für die Kür des Kommissionspräsidenten zu finden. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte, die Regeln müssten klarer werden, um die "Theorie-Debatten" der letzten Wochen künftig zu vermeiden. Zumindest an dieser Stelle sind sich Parlament und Rat also bereits einig.